Das Fuenfte Evangelium
eine Mauer des Schweigens stieß.
Und wieder klingelte das Telefon mit jener Erbarmungslosigkeit, zu der so ein Gerät zu nachtschlafender Zeit fähig ist. Noch während Anne den Kopf in ihrem Kissen vergrub, kam ihr der Verdacht, daß dieses Geräusch keineswegs ihrer Einbildung entsprang, nein, es läutete wirklich.
Sie fingerte im Halbdunkel nach dem Hörer und meldete sich schlaftrunken: »Hallo?«
»Frau von Seydlitz?« kam es vom anderen Ende der Leitung.
»Ja.«
»Sie sollten«, sagte eine männliche Stimme, »nicht länger nach dem Pergament forschen. In Ihrem eigenen Interesse.«
»Hallo!« rief Anne aufgeregt. »Hallo, wer spricht da?« Die Leitung war tot. Aufgelegt.
Anne glaubte die Stimme zu kennen, aber sie war nicht sicher, ob es wirklich Guthmann war. Und wenn, welchen Grund sollte der Professor haben, sie um diese Zeit anzurufen; wovor wollte er warnen?
Sie hielt es im Bett nicht mehr aus. Anne stand auf, ging ins Bad, ließ aus dem Hahn kaltes Wasser über ihr Gesicht laufen, kleidete sich flüchtig an und schaltete die Kaffeemaschine an. Das Gerät würgte lautstark heißes Wasser in den Filter wie ein Frosch vor der Laichzeit. Der Duft, den es verbreitete, wirkte ernüchternd, und sie setzte sich, die Kaffeetasse mit beiden Händen haltend, in einen Lehnstuhl.
»Barabbas«, sagte sie leise vor sich hin, »Barabbas«, und sie schüttelte den Kopf.
So saß sie frierend und starrte vor sich hin, bis der Morgen graute, für Anne eine Erlösung.
12
I n ausweglosen Situationen wie dieser gibt es Augenblicke, in denen die Spannung auf einmal einer Vision weicht, in denen plötzlich ein Hoffnungsschimmer auftaucht, geeignet, alle Probleme zu lösen wie mit Hilfe eines Zaubermittels. So erging es Anne von Seydlitz. Guthmann wußte mehr über das Pergament, als er bei ihrer Begegnung am Vortage preisgegeben hatte. Rückblickend durfte sie sogar glauben, der Professor wußte alles. Als der Experte auf dem Gebiet der Koptologie kannte er gewiß nicht nur den Inhalt, er mußte auch über die Zusammenhänge informiert sein, die das Blatt so bedeutungsvoll machten.
Den Professor in seinem Institut aufzusuchen und zur Rede zu stellen schien Anne nicht angebracht; denn wenn Guthmann mehr wußte, als er bei ihrem ersten Besuch zugegeben hatte, dann würde er es auch bei einem zweiten Besuch nicht einfach ausplaudern. Wollte sie überhaupt eine Chance haben, so mußte Anne den Professor überrumpeln. Sie nahm sich vor, ihn mit einem größeren Betrag zu bestechen; denn von seiner Erscheinung her machte Guthmann den Eindruck, als ob er Geld nötig hätte.
Gegen 17 Uhr parkte sie ihren Wagen schräg gegenüber dem Institut, von wo sie den Eingang gut übersehen konnte. Ihr Plan sah vor, Guthmann abzufangen, ihn um eine Unterredung zu bitten und ihm bei einem gemeinsamen Abendessen ein großzügiges Angebot zu machen, großzügig genug, um ihn zum Sprechen zu bringen.
Nach dreieinhalb Stunden, gegen halb neun, trat ein Hausmeister vor das Portal und machte Anstalten, das Gebäude abzuschließen, Anne stieg aus, rannte quer über die Straße und fragte den Portier, ob Herr Guthmann noch im Hause sei. Der erwiderte, es sei niemand mehr im Haus, vergewisserte sich aber durch einen Telefonanruf, der ohne Antwort blieb.
Am folgenden Tag war Anne, nach einer weiteren schlaflosen Nacht, schon morgens um halb acht zur Stelle. Doch auch diesmal war ihr Warten erfolglos. Guthmann kam nicht. Sie sah nun keinen Grund, den Professor nicht in seiner Wohnung aufzusuchen. Die Adresse entnahm sie dem Telefonbuch: Guthmann, Prof. Dr. Werner.
Werner Guthmann lebte in einem Reihenhaus in einem westlichen Vorort, wo die Immobilienpreise erschwinglich waren. Auf ihr Klingeln öffnete eine Frau mittleren Alters. Sie gab sich abweisend. Anne nannte umständlich ihr Anliegen; der Professor sei der einzige Mensch, der ihr weiterhelfen könne. Aber noch ehe sie ihre Geschichte zwischen Tür und Angel erzählt hatte, unterbrach sie die Frau, es tue ihr sehr leid, ihr nicht helfen zu können, ihr Mann sei seit zwei Tagen spurlos verschwunden. Die Polizei fahnde bereits nach ihm.
Anne erschrak. An dem gottverdammten Pergament schien ein Fluch zu kleben, der sie verfolgte wie ein Schatten. Sie verabschiedete sich hastig, und während sie zu ihrem Wagen ging, kam ihr zum wiederholten Male der Gedanke, vollkommen verrückt zu sein. Aber schon im nächsten Augenblick regte sich in ihr das Bewußtsein, daß sie bei klaren Sinnen sei,
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