Das Fuenfte Evangelium
heruntergekommene Haus; es fiel ihr schwer, sich Rauschenbach in einem anderen Haus als diesem vorzustellen. Noch bevor sie den abgegriffenen Klingelknopf in einer trichterähnlichen Vertiefung drückte, hörte sie Musik. Deshalb drückte sie länger als für einen Besucher schicklich, damit Rauschenbach, eingelullt von Musik und Rotwein, ihr Klingelzeichen nicht überhörte.
Aber der reagierte nicht. Auch ein nochmaliges, ungestümes Läuten blieb ungehört. Mit der Hand schlug Anne gegen die Tür. »Herr Doktor Rauschenbach!« rief sie ungehalten. »Herr Doktor Rauschenbach, öffnen Sie doch!«
Der Lärm, den sie dabei verursachte, rief den Hausmeister auf den Plan, einen pfiffigen Jugoslawen mit steifem Fuß, welcher ihn nicht hinderte, mit dem anderen, gesunden immer zwei Stufen nehmend, ungewöhnlich schnell in das oberste Stockwerk zu gelangen.
»Doktor nicht da?« fragte er lächelnd.
»Doch, er muß dasein, hören Sie nur die Musik!« erwiderte Anne.
Der Jugoslawe lauschte, preßte ein Ohr gegen die kantige Türfüllung und kam, nicht unerwartet, zu der Feststellung: »Musik nur wenn Doktor zu Hause. Aber vielleicht …«, und dabei machte er eine Handbewegung wie jemand, der ein Glas leert, und zwinkerte mit einem Auge.
Aber noch während der Hausmeister mit seiner Pantomime anzudeuten versuchte, daß Rauschenbach wohl wieder einmal über den Durst getrunken hatte, traf es Anne wie ein Peitschenhieb: Aus dem Innern schallte ›Ach, ich habe sie verloren …‹, die Arie aus Orpheus und Eurydike. Anne preßte ihrerseits ein Ohr gegen die Tür; sie spürte den Pulsschlag in ihren Schläfen, kein Zweifel: die Orpheus-Arie!
»Haben Sie einen Nachschlüssel?« fuhr Anne den Jugoslawen an.
Der verstand die Aufregung nicht, langte ruhig in die Tasche, zog einen alten, großen Schlüssel hervor und hielt ihn der Frau vor die Nase: »Hausmeisterschlüssel«, sagte er grinsend. »Paßt überall.«
»So schließen Sie doch auf!« bat Anne.
Mit einem Schulterzucken, das wohl soviel andeuten sollte wie: Ich weiß nicht, ob das richtig ist, aber wenn Sie meinen … schob er den unförmigen Schlüssel ins Schloß, und Anne stürmte in die Wohnung.
Rauschenbach saß an seinem Schreibtisch, der Oberkörper hing vornüber, der Kopf lag zur Seite gedreht auf der Schreibtischplatte. Aus dem zu einer Fratze verzerrten Mund hing die Zunge, pelziggrau und von ungewöhnlicher Länge; seine Augen waren geöffnet, aber man konnte nur das Weiße sehen. Bei näherer Betrachtung erkannte Anne dunkle Male an seinem Hals. Rauschenbach war erwürgt worden.
Vom Grammophon tönte noch immer die Arie. Als sie geendet hatte, hob sich der Tonarm wie von Geisterhand, setzte von neuem auf und wiederholte die unendlich traurige Melodie.
»Nein! Nein! Nein!« rief Anne und preßte die Hände vor beide Ohren, dann stürzte sie sich auf das Gerät. Ein häßliches Krächzen, dann war es still.
10
I n den folgenden Nächten schlief Anne schlecht.
Sie hatte den Eindruck, daß es immer nur Sekunden waren, in denen sie das Bewußtsein verließ, ein paar kurze Sekunden gegenüber den endlosen Stunden einer Nacht. Krampfhaft versuchte sie die Augen offenzuhalten und die Decke anzustarren, wo in unregelmäßigen Abständen die Lichter vorbeifahrender Autos erschienen und nach kurzer Prozession wieder verschwanden; denn sobald sie die Augen schloß, brachen Bilder über sie herein, die ihr zusetzten wie quälende Parasiten. Wie Blutegel saugten sich die Bilder in ihrem Gedächtnis fest, und sie erschienen Anne so klar, so deutlich, daß es ihr schwerfiel und allmählich nahezu unmöglich wurde, zwischen Wahnvorstellung und Realität zu unterscheiden. Und mehr als einmal stellte sie sich im Wachen die Frage, ob sie verrückt sei, ob ihr Gehirn nicht mehr richtig arbeite, ob es Träume waren, die ihr diese unglaublichen Fantasiebilder vorgaukelten, Träume, die den Kontrollapparat der Vernunft zerstört hatten.
Vielleicht hast du selbst in dem Unfallauto gesessen, begann sich Anne ernsthaft zu fragen, vielleicht hat der Aufprall dein Gehirn gelähmt und dein Gedächtnis zerfetzt, vielleicht gehst du ohne Bewußtsein durchs Leben und tust und erlebst Dinge außerhalb jeder Realität, vielleicht nennt man den Zustand, in dem du dich befindest, Tod?
In solchen Augenblicken versuchte Anne bisweilen aufzustehen, um zu beweisen, daß sie noch Gewalt über sich hatte, aber ein jedes Mal mißlang der Versuch. Ihr fehlte einfach die Kraft, ihren
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