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Das Fuenfte Evangelium

Das Fuenfte Evangelium

Titel: Das Fuenfte Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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weil sie ihren Zustand und die Umstände, die dazu geführt hatten, rückhaltlos und logisch analysieren konnte. Dennoch schien sich eine geheimnisvolle Macht über sie und ihr Leben gelegt zu haben, wie ein Krake, der in der Lage war, seine Fangarme auch nach entfernter Beute auszustrecken.

Zweites Kapitel
    D ANTE UND L EONARDO verschlüsselte Geheimnisse
1
    E s ist Unsinn, wenn Menschen behaupten, jemand, der mit seinem Leben abgeschlossen hat, sei nicht bei klarem Bewußtsein. Vossius war so klar, daß ihm – entgegen sonstiger Gewohnheit – sogar ständig irgendwelche Zahlen in den Sinn kamen, Zahlen, die für ihn und die Situation, in der er sich befand, ohne jede Bedeutung waren. So überlegte er allen Ernstes, ob er wirklich zwanzig Francs ausgeben sollte für den Lift, der ihn zur dritten Plattform bringen würde, oder ob er ein paar Francs sparen und zu Fuß die Treppe bis zur ersten Plattform hinaufklettern sollte. Einer Schemazeichnung neben der Kasse entnahm er, daß jene zwar nur 57 Meter hoch lag; aber um sich zu Tode zu stürzen genügte das allemal. Doch dann sagte er sich, du stirbst nur einmal, und er wollte Paris noch einmal von oben sehen, aus dreihundert Metern Höhe. Also reihte er sich geduldig ein in die Schlange vor einem der Kassenschalter, mit dem festen Vorsatz, zum Preis von zwanzig Francs seinem Leben ein Ende zu setzen, von ganz oben.
    Besucher des Eiffelturmes werden auf eine harte Geduldsprobe gestellt, weil die Menschenschlangen, die das Wahrzeichen erstürmen wollen, an allen Tagen schier endlos sind, sogar an einem unfreundlichen Herbsttag wie diesem. Von ihm selbst ausgehend begann er die Wartenden vor sich zu zählen. Er kam auf über neunzig und errechnete, daß, würde der Vorgang des Kartenerwerbs bei jedem einzelnen nur zwanzig Sekunden in Anspruch nehmen, er eine halbe Stunde warten müßte.
    Gewiß, das sind unsinnige Gedanken im Angesicht des Todes, aber sie sollen auch nur deshalb wiedergegeben werden, um die Klarheit seiner Gedanken zu beschreiben, die ihm der eine oder andere vielleicht im nachhinein absprechen möchte. Das ging sogar soweit, daß er verstohlen – also mit jener betonten Zufälligkeit, die keinem aufmerksamen Beobachter verborgen bleibt – die Menschen vor und hinter sich musterte, ob sie nicht die absonderliche Ruhe in seinem Verhalten wahrnahmen, die einen Menschen kennzeichnet, der nur noch ein Ziel vor Augen hat. Er ertappte sich sogar dabei, daß er lautstark hüstelte, obwohl er gar kein Bedürfnis dazu verspürte – nur um keinen falschen Eindruck zu erwecken.
    Irgendwann während dieser endlos scheinenden Minuten des Wartens kamen ihm Zeitungsmeldungen in den Sinn, die sein Sprung vom Eiffelturm nach sich ziehen würde. Vielleicht unter ›Vermischtes‹ oder – noch verachtenswerter – ein Einspalter unter ›Lokales‹ zwischen einem Verkehrsunfall in der Rue Rivoli und einem Wohnungseinbruch im Quartier Latin. Dabei war das, was er mit sich in den Tod nahm, von so großer Bedeutung, daß es alle Schlagzeilen dieser Welt am nächsten Tag verdrängt hätte.
    Angst vor dem, was er vorhatte, kannte er nicht, weil man ohnehin vor dem Tod keine Angst zu haben braucht, nur vor dem Sterben, und das würde in seinem Fall so schnell vonstatten gehen, daß keine Zeit zum Lamentieren bliebe. Irgendwo hatte er gelesen, man würde überhaupt keinen Schmerz spüren, wenn man sich von einem hohen Turm stürzte, weil einen kurz vor dem Aufschlag das Bewußtsein verlasse.
    Skepsis verursachte bei ihm nur der Gedanke, wer das wirklich wissen konnte, ob dies nicht nur graue Theorie war – denn die Praxis hatte ja wohl keiner überlebt. Dennoch kamen bei ihm keine Zweifel auf, obwohl ihm natürlich bewußt war, daß der Entschluß, seinem Leben ein Ende zu setzen, nicht seinem eigenen Wollen entsprang. Doch der Entschluß war so stark, daß ihn nichts davon abbringen würde.
    Irgendwie hatte der feste Entschluß in ihm sogar einen seelischen Aufschwung hervorgerufen, so daß er einer eleganten vorbeiparadierenden Blondine – anders konnte man die Zurschaustellung ihres neuen Kostüms nicht nennen – hinterherpfiff, wobei er die Augen verdrehte wie ein barocker Heiliger. Nie im Leben hätte er das vorher fertiggebracht, ein Mann seines Standes und Alters!
    Er hatte, das wurde ihm auf einmal klar, ein pflichtbewußtes, von der Gesellschaft mit Bewunderung verfolgtes Leben geführt und stets jenes Verhalten an den Tag gelegt, das man von ihm in

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