Das Fuenfte Evangelium
seiner Position erwartete. Nicht ohne Stolz hatte er sein Leben gelebt, das Leben eines angesehenen Wissenschaftlers, Professors für Komparatistik. Er hatte sich dieses Fach ausgesucht, weil er dank seines hervorragenden Gedächtnisses besonders dafür geeignet war und es als wichtig ansah, obwohl höchstens einer von tausend erklären kann, daß es sich hierbei um vergleichende Literaturwissenschaft handelt.
Den Musen, genauer einem Forschungsauftrag der California State University in San Diego, hatte er seine Ehe geopfert – was heißt: geopfert, die ehrbare Durchschnittsehe wäre auch ohne den Entschluß, nach Leibethra zu gehen, zerbrochen. So hatte es sich gut gefügt, das von der Gesellschaft verordnete Ideal des menschlichen Zusammenlebens ohne großes Aufsehen aufzulösen und den Zwang eines amerikanischen Lehrstuhls einzutauschen gegen die Freiheit eines internationalen Forschungsinstituts.
Vossius machte ein paar langsame Schritte auf sein Ende zu. Er empfand es als unangenehm, daß die hinter ihm sofort auf Tuchfühlung nachrückten. Allmählich wurde ihm das Warten lang, die Menschenschlange lästig, und in ihm begann das unerklärliche Gefühl hochzukriechen, das einen befällt, der sich in die Enge getrieben fühlt.
Diese Art von Bedrängnis hatte ihn zeit seines Lebens von organisierten Veranstaltungen abgehalten, die nach seiner Bekundung bereits dann als solche bezeichnet werden mußten, wenn sich mehr als sechs Personen um einen Tisch versammelten. Vossius hatte es sich angewöhnt, schwierige Gedankengänge nicht im Sitzen, sondern im Gehen zu lösen wie Aristoteles und seine Schüler. Enge macht dumm, lautete eine seiner oft zitierten Behauptungen, die er mit zahlreichen Beispielen aus der Geschichte zu untermauern wußte.
Überhaupt hatte der Professor Angewohnheiten, die außerhalb des Gewöhnlichen lagen, ihn also zu einem ziemlich ungewöhnlichen Mann stempelten. Dazu gehörte auch, daß Vossius sich in unregelmäßigen Abständen von zwei bis vier Monaten eine Hungerkur verschrieb, bei der er acht Tage nur Mineralwasser zu sich nahm. Der Grund für diese Selbstkasteiung waren nicht etwa Gewichtsprobleme, wie man vielleicht annehmen könnte, Vossius glaubte vielmehr auf diese Weise seine Konzentration und das Denkvermögen an sich zu fördern. Auch dem Geheimnis des Barabbas war er während einer solchen Hungerkur auf die Spur gekommen.
Dieses Fasten entsprach also mehr einer Philosophie als dem Gedanken an seine Gesundheit, mit der Vossius eher Raubbau trieb. Denn sein Beruf erschien ihm nie ein Mittel zum Zweck des Geldverdienens, das eine sorgsam bemessene 40-Stunden-Woche zur Folge gehabt hätte; nein, sein Beruf war ihm Bedürfnis, man könnte beinahe sagen Sucht, von der er auch des Nachts nicht ablassen konnte. Nächtliche Ausritte in die Welt der Komparatistik, bei denen er irgendeine Spur bis zur totalen Erschöpfung verfolgte (Cola und schwarze Zigaretten taten dabei ein übriges), führten ihn oft an den Rand des Zusammenbruchs. Nein, gesund hatte Vossius nie gelebt. Sein Beruf war eine jener Leidenschaften, die einen verzehren, aber niemals umzubringen vermögen.
Hätte er geahnt, daß er eines Tages zum Opfer seines eigenen Wissens werden würde, er hätte nie und nimmer diesen furchtbaren Beruf erwählt; als biederer Beamter oder Handwerker mit Sinn für die Kunst hätte er ein anständiges Leben geführt, ohne je vor sich selbst flüchten zu müssen. Sokrates irrte – und es war gewiß nicht das erste Mal –, wenn er sagte, Wissen sei das einzige Gut für den Menschen und Unwissenheit das einzige Übel. Unwissenheit kann ein großes Glück bedeuten und Wissen ein grausames Unglück, dafür gibt es unzählige Beispiele. Und es ist überhaupt nicht böse gemeint, wenn man sagt, die Unwissenden seien die Glücklicheren: Sie sind es. Ihr Leben ist ein Paradies und ihre Arbeit Broterwerb und nicht mit dem Dickicht von Zweifeln behaftet, das undurchdringlich ihr Wissen umgibt, weil Wissen nichts anderes ist als eine immer wiederkehrende Form des Zweifels.
Was anderes als Zweifel hat der Menschheit die höchste Erkenntnis beschert? Und hätte er, Vossius, nicht gezweifelt, ob Dante, Shakespeare, Voltaire und Goethe, ja, selbst ein Leonardo nicht mehr waren als geniale Geschichtenerzähler, ob sie nicht Mitwisser waren eines unvorstellbaren Mysteriums, er wäre unwissend geblieben, aber glücklich.
So aber mußte er sich vor sich selbst fürchten, vor seinem Wissen und vor
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