Das Fuenfte Evangelium
›Verità‹ zu erfahren. Der aber, ein frommer junger Mann namens Jerome, nahm das Buch über Nacht mit nach Hause und warf es Vossius am folgenden Tag vor die Füße mit dem Hinweis, es sei schade um die Zeit, einen solchen Schund zu übersetzen, denn es handle sich um eine Fälschung, die mit dem Original, vor allem aber mit Dante Alighieri, nichts gemein habe. Vossius sah damals keinen Grund, an Jeromes Aussage zu zweifeln, aber weil es sich um ein sehr altes Buch handelte und um eine Kuriosität obendrein, bewahrte er es auf; ja, es überstand sogar mehrere Umzüge, bei denen manch anderes verlorenging.
3
I nzwischen war er in der Schlange wartend bis zum Kassenschalter vorgedrungen, wo Vossius, wie beschlossen, ein Billett zum Preis von zwanzig Francs löste, das ihn berechtigte, den Lift bis zur obersten Plattform zu benützen. Unauffällig blickte er sich noch einmal um, ob er verfolgt würde, stellte aber keine Auffälligkeiten fest und ging hinter zwei älteren Damen zu dem gläsernen Käfig, um auf den Aufzug zu warten.
Er wartete nicht lange, und die Schiebetüren öffneten sich mit lärmendem Getöse, und die Besucher stürmten den riesigen Käfig wie Tiere im Zirkus. Mit einem Ruck setzte sich der Aufzug in Bewegung. Wie in allen Aufzügen der Welt richteten die Menschen aus unerfindlichem Grund den Blick auf die Türen. Keiner wagte, dem anderen ins Gesicht zu sehen. Vossius schon gar nicht, denn er fürchtete erkannt zu werden. Also starrte auch Vossius mit gespielter Teilnahmslosigkeit wie alle anderen auf die Schiebetüren.
Auf diese Weise entging ihm, daß im hinteren Teil des Aufzugs zwei Männer standen, die ihn nicht aus den Augen ließen. Sie trugen dunkle Lederjacken, die ihrem Aussehen etwas Martialisches verliehen, das durch ihre Duplizität noch verstärkt wurde. Auch diese beiden mimten Teilnahmslosigkeit, aber bei näherem Hinsehen hätte man entdecken können, wie sie sich mit den Augen und mit kleinen, ruckartigen Bewegungen des Kopfes verständigten.
Mit einer Bewegung, die ein leichtes Kribbeln im Bauch verursachte – vor allem bei Vossius, der gegen Aufzüge eine heftige Abneigung hegte –, blieb der Lift stehen. Die Türen öffneten sich mit dem gleichen metallischen Geräusch, und die Besucher, die bisher andächtig geschwiegen hatten, drängten lärmend auf die Plattform. Mit Bedacht überließ Vossius allen anderen den Vortritt. So konnten die beiden Männer in den Lederjacken nicht umhin, vor der von ihnen beschatteten Person auszusteigen, wobei sich der eine nach links wandte, der andere auf die rechte Seite.
Der Blick von der ersten Plattform des Eiffelturmes ist in gewisser Weise den oberen Stockwerken vorzuziehen, weil von hier die umliegenden Gebäude und Stadtteile noch in greifbarer Nähe sind. Für einen Selbstmörder, wenige Augenblicke vor seiner Tat, verhielt Vossius sich ungewöhnlich gelassen. Ohne an das, was vor ihm lag, auch nur einen Gedanken zu verlieren, ging er zur gegenüberliegenden Seite des Umgangs, stützte sich mit den Armen auf die Brüstung und blickte über die Seine zum Palais de Chaillot, wo sich die Menschen wie Ameisen in höchster Erregung ausnahmen. Dort, in den Grünanlagen, hatte er als Student oft seine Nachmittage verbracht, ein paar Bücher im Gepäck, die jedoch meist unbeachtet geblieben waren, der vielen hübschen Mädchen wegen, die man hier antraf, meist Rollschuh fahrend.
Eine der Rollschuhläuferinnen hieß Avril, ein Name, dem er nie mehr im Leben begegnen sollte, wie er auch Avril nie mehr begegnete. Sie war Irin und hatte einen Bubikopf mit feuerroten Haaren, schneeweiße Haut und Sommersprossen auf Nase und Wangen, die bei Sonne leuchteten wie Glühwürmchen, bei trübem Wetter aber unsichtbar blieben, ein seltsames Rätsel der Natur. Avril erzählte, sie studiere Ballett, und sie verbrachten viele gemeinsame Tage und Nächte. Seinem Wunsch, sie einmal tanzen zu sehen, war sie nie nachgekommen, obwohl er nichts sehnlicher wünschte.
Sie sprach auch nie über klassischen Tanz, und so kam, was kommen mußte: Vossius folgte ihr eines Tages heimlich von ihrer Wohnung in der Rue Chapon bis zum Quartier, wo sie in einem Animierlokal mit Namen ›Carnavalet‹ verschwand, in dem vor allem Algerier verkehrten. Avril tanzte dort weniger Ballett als nackt auf dem Tisch – größer war die Bühne jedenfalls nicht –, und als Vossius sie so überraschte, ohne ihr jedoch eine Szene zu machen, verschwand das Mädchen von einem
Weitere Kostenlose Bücher