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Das Fuenfte Evangelium

Das Fuenfte Evangelium

Titel: Das Fuenfte Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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denen, die hinter diesem Wissen her waren. (Daß er auf der Flucht war vor den Folgen einer Straftat, hatte Vossius in diesem Augenblick verdrängt.) Lässig, beinahe gelangweilt, was aber, wie schon erwähnt, keineswegs seinem inneren Zustand entsprach, stopfte er die Hände in die Hosentaschen. Seine Rechte zuckte unwillkürlich zurück, als er das Fläschchen in seiner Tasche spürte.
    Es war nicht das Fläschchen an sich, das ihn erneut in Aufregung versetzte, sondern das Werk, das sein ätzender Inhalt verrichtet hatte, farblos, geruchlos, ölig. H 2 SO 4 . Während er mit den Fingern über das kantige Fläschchen strich, blickte er abermals nach allen Seiten, aber er konnte keine Bewegung ausmachen, aus der er hätte schließen können, daß man ihn verfolgte.
    Aus dem Kanaldeckel, auf dem er stand, quoll der ekelerregende Geruch erwärmten Abwassers, und Vossius wollte, um dem zu entgehen, aus der Reihe treten, doch er harrte aus, um nur nicht aufzufallen. Lächerlich, dachte er, wie leicht es war, in dieser Stadt ein Verbrechen zu begehen, und wie einfach, unterzutauchen.
    Vom Äußeren her war das nicht schwierig, denn so ungewöhnlich und genial Professor Vossius in bezug auf seinen Verstand war, so durchschnittlich war seine Erscheinung. An seinem Alter von gerade 55 Jahren gab es nichts zu deuteln. Das Oval seines weichen Gesichtes wurde von einer länglichen, schmalen Nase dominiert und einer hohen Stirn, wie man wohl sagt, wenn der Haaransatz nicht mehr an der ursprünglichen Stelle sitzt. Vossius war jedoch weit entfernt, unter irgendeinem Mangel seiner äußeren Erscheinung zu leiden, etwa den langgezogenen Ohren, aus denen Haarbüschel wuchsen wie kräftiges Schilf aus einem Tümpel. Wenn man näher hinsah, hatte dieses Gesicht etwas Harmonisches an sich und eine listige Freundlichkeit, die in der Hauptsache von seinen kleinen Augen herrührte. Diese Augen bewegten sich unablässig; ja, man hatte schon nach kurzer Begegnung den Eindruck, sie seien ständig auf der Suche nach Neuem. Seine Kleidung war stets korrekt, aber von modischem Chic weit entfernt, so auch an diesem denkwürdigen Tag, an dem er über einem offenen Hemd einen khakifarbenen Anzug und einen zerknitterten beigen Trenchcoat trug.
2
    E r liebte Paris, seit er denken konnte. Er hatte hier nach dem Krieg studiert, in der Rue des Volontaires nahe dem Pasteur-Institut gewohnt, ganz oben unterm Dach bei einer Witwe, die ständig eine Zigarette im Mundwinkel hängen hatte und zur Verbesserung der Hinterbliebenenrente vermietete. Zwei Mansardenfenster zeigten zum Hof, und das Mobiliar hatte bessere Zeiten gesehen, vielleicht sogar den Sturm auf die Bastille; jedenfalls hing aus dem beinharten Sofa, das ihm bei Tag als Sitz-, des Nachts als Schlafgelegenheit gedient hatte, an allen erdenklichen Stellen schwarzes Roßhaar heraus, und nach Pferd roch es auch.
    Im Winter, wenn der Wind durch die abgeblätterten Fensterrahmen heulte wie das Jaulen der herrenlosen Hunde unter den Brücken der Seine, war der schwarze, runde Eisenofen ohnehin überfordert, vor allem aber geizte Madame Marguery, wie die kettenrauchende Witwe hieß, mit den wärmespendenden Briketts, und sein Erbieten, das kostbare Gut die sechs Treppen hochzuschleppen (in der Hoffnung, die eine oder andere Kalorie für sich abzuzweigen), lehnte Madame ab. Sie zählte die Briketts mit der Akribie eines Buchhalters und teilte sie zu, vier Stück pro Tag, was Vossius jetzt noch zum Frösteln brachte, wenn er nur daran dachte.
    Aber Not macht erfinderisch, vor allem, wenn es sich um die ganz alltäglichen Bedürfnisse handelt. Auf den Flohmärkten um die Porte de Clignancourt und bei den Trödlern im Village Saint-Paul bekam man damals für ein paar Centimes dicke alte Bücher mit festen kartonierten Einbänden, denen das Titelblatt oder andere Seiten aus unerfindlichen Gründen fehlten. Obwohl mit bedrucktem Papier auf beinahe ehrerbietende Weise verbunden, scheute Vossius sich durchaus nicht, damit seinen Eisenofen zu schüren – zugegeben, mit schlechtem Gewissen.
    Angemerkt sei zu seiner Ehrenrettung, daß Vossius ein jedes Buch vor dem Verbrennen einer Prüfung unterzog – nicht etwa der Brennbarkeit wegen, sondern, wie es sich für einen angehenden Wissenschaftler gehörte, den geistigen Inhalt betreffend, der, wie Jung-Vossius schon bald in Erfahrung brachte, in diametralem Gegensatz zum Heizwert der Werke stand. Auf einen vereinfachten Nenner gebracht: Dünne Bücher zeigten

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