Das Fuenfte Evangelium
weit höheren geistigen Gehalt als dicke, aber letztere brannten länger.
Madame Marguerys Geiz ist es jedenfalls zuzuschreiben, daß Vossius eines Tages unter den erwärmenden Büchern ein Exemplar von Dantes ›Divina Commedia‹ herausfischte, gedruckt ohne Ort und Jahr in italienischer Sprache, das sich von allen anderen, die er bisher verheizt hatte, durch eine Ungeheuerlichkeit unterschied: Alle Bücher litten, wie erwähnt, unter dem Trauma der Versehrtheit, sie waren alt und unvollständig und daher praktisch unverkäuflich. Anders diese Dante-Ausgabe. Diese ›Göttliche Komödie‹ enthielt neben den drei bekannten Hauptteilen ›Inferno‹ (Hölle), ›Purgatorio‹ (Fegefeuer) und ›Paradiso‹ (Paradies) noch ein Nachwort ›Verità‹ (Wahrheit), einen Teil, den es gar nicht gab oder nicht geben konnte, weil er in allen bekannten Ausgaben dieses Werkes fehlte.
Später hatte er sich insgeheim verflucht, weil er das Buch nicht in den schwarzen, eisernen Ofen geworfen hatte. Denn mit diesem unscheinbaren, abgegriffenen Buch, an dessen Preis er sich nicht einmal mehr erinnern konnte – aber mehr als 25 Centimes dürften es nicht gewesen sein –, begann alles; aber natürlich ahnte er das nicht. Diese 25 Centimes, die Vossius keineswegs in der Absicht geistiger Erbauung, sondern aus einem verachtenswerten Wärmebedürfnis ausgegeben hatte, sollten sein Leben verändern, schlimmer, sie sollten die Ursache sein, daß er nun den Sprung vom Eiffelturm als einzigen Ausweg sah.
Zurück zu Dante: Jeder Student der Literatur erfährt im ersten Semester von den Rätseln, die sein Hauptwerk einhüllen wie Gespinste, ja, genaugenommen besteht es nur aus Rätseln, was schon mit dem Titel beginnt, der ›Göttlichen Komödie‹. Soweit bekannt, nannte Dante Alighieri sein Werk gar nicht ›Göttliche Komödie‹, sondern nur ›Komödie‹, aber das betont nur das Mysterium dieses Buches; denn zum Lachen gibt es wenig, ehrlich gesagt nichts. Dennoch wählte er den Titel nicht ohne Absicht.
Jahrhunderte glaubten die Menschen, ein Buch, das Hölle, Fegefeuer und Paradies zum Inhalt hat, müsse ein frommes Werk sein im Sinne der heiligen Mutter Kirche. Aber eine Kutte macht noch keinen Heiligen, und bei seinem Gang durchs Paradies begegnet Dante zwar Königen, Dichtern und heidnischen Philosophen, aber keinen Päpsten, für die er nur verachtenswerte Worte übrig hat. Von Frommsein also keine Rede. Gott sei bei uns: Selbst hinter der heiligen Jungfrau Maria versteckt sich Beatrice, die unerfüllte Liebe seines jungen Herzens.
Gewiß war Dante ein schlauer Kopf, vielleicht der Wissendste seiner Zeit, so daß er sich oft nur in Andeutungen erging, die auf ein viel tieferes Wissen schließen lassen, als er es schriftlich kundtat. Von der Hand des Dichters ist nicht eine Zeile erhalten, was zu weiteren Spekulationen Anlaß gibt und die Florentiner veranlaßte, schon ein halbes Jahrhundert nach Dantes Tod einen Dante-Lehrstuhl zu errichten. Aber wie so oft, wenn Professoren sich des Schicksals eines Menschen annehmen, gerieten sie in heftigen Streit um das, was Dante sagen und verbergen wollte. Sie zählten Verse (14.000) und entdeckten im Aufbau des Werkes eine geheimnisvolle Zahlensymbolik, die darauf schließen läßt, daß sich noch weit mehr Wissen hinter der ›Komödie‹ verbirgt. Die drei Hauptteile teilen sich in je 33 Kapitel auf: 3 mal 33 gleich 99, und 99 gilt als Zahl der Vollkommenheit.
Zahlen sind oft das Spiegelbild kosmischer oder menschlicher Ordnungen, das wußten schon die alten Griechen, und auch Dante spielte mit dieser Symbolik, wenn sich das Paradies in neun konzentrisch kreisenden Himmeln um die Erdkugel wölbt oder wenn der Höllentrichter in neun Kreisen abfällt bis zum Erdmittelpunkt, dem Sitz Luzifers. Jedenfalls wußte Dante um die Magie der Zahlen und um ihre symbolische Bedeutung, etwa den kosmischen Sinngehalt der Zahl 4 (Elemente, Jahreszeiten, Weltalter) oder die Durchdringung von Geistigem und Materiellem mit der Zahl 6. Aber er wußte noch viel mehr.
War es Zufall, daß offiziell kein einziges Original von Dantes ›Komödie‹ überlebte, daß die erste Abschrift erst fünfzehn Jahre nach seinem Tod auftauchte?
Wie es schien, hatte Vossius zufällig unter seinem akademischen Brennmaterial ein gedrucktes Exemplar jener verschollenen Urausgabe Dantes vorgefunden, und er nahm die Hilfe eines befreundeten Romanisten in Anspruch, um den Inhalt des Nachwortes mit dem Titel
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