Das Fuenfte Evangelium
unvermittelt. »Sie hatten doch eine schwere Kindheit? Wie war das Verhältnis zu Ihrer Mutter? Wie steht es um Ihr Verhältnis zu Frauen im allgemeinen? Was hat Sie bewogen, gegen die Brüste der Madonna Säure zu spritzen? Fühlten Sie dabei, als würden Sie urinieren? Spürten Sie nach der Tat deutliche Erleichterung?«
Da konnte Vossius nicht mehr an sich halten, er sprang auf, stampfte auf den Boden, als wollte er die unglaublichen Fragen des Doktors zertreten wie der Riese Gargantua das Felsengestein, und er lachte schadenfroh und triumphierend wie dieser: »Nur zu, Doktor, nur zu, gewiß fällt Ihnen noch mehr ein!« rief er wutschnaubend, und dabei lief sein Kopf rot an wie eine Tomate. Es war dies genau die Reaktion, die er um alles in der Welt hatte vermeiden wollen, weil sie seinem Gegner plumpe Argumente lieferte. Erschrocken sah Vossius Doktor Le Vaux an.
Für den waren derlei Ausbrüche nichts Besonderes; jedenfalls machte er, als einer der Pfleger seinen Kopf durch die Tür steckte und seine Hilfe anbot, nur eine abweisende Handbewegung, als wolle er sagen: Mit dem werde ich schon allein fertig. Aber er sagte nur: »Bitte beruhigen Sie sich. Ich werde Ihnen jetzt eine Spritze geben, und dann werden Sie sich viel besser fühlen.«
»Keine Spritze, keine Spritze!« stammelte Vossius, während Le Vaux mit unverschämter Ruhe eine Injektion aufzog. Der Zustand seines Patienten schien ihn nicht im geringsten aufzuregen. »Die Spritze ist wirklich absolut harmlos«, beteuerte er mit dem Lächeln eines Sadisten und fügte hinzu: »Ich verstehe ja Ihre Erregung.«
Vossius zitterte am ganzen Körper. Was sollte er tun? Er kochte vor Wut und Empörung. Einen Augenblick dachte er daran, sich auf den aufgeblasenen Psychiater zu stürzen und die Flucht zu ergreifen, doch dann siegte seine Vernunft und die Einsicht, daß er nicht weit kommen würde. Seine Augen suchten das Fenster zu seiner Rechten, aber sein Blick machte den Gedanken zunichte – alle Fenster in diesem Haus waren vergittert.
Die Spritze zwischen Zeige- und Mittelfinger haltend wie eine teure Havanna trat Le Vaux vor Vossius hin, zog sich einen Stuhl heran und fragte: »Was hat Sie zu dem Entschluß gebracht, vom Eiffelturm springen zu wollen? War es die Furcht vor Bestrafung wegen des Säureattentats? Oder fühlten Sie sich verfolgt?«
»Natürlich fühle ich mich verfolgt!« brach es unerwartet aus Vossius heraus, eine Antwort, die er sofort bereute, aber nun einmal nicht mehr rückgängig machen konnte.
»Ich verstehe.« Le Vaux gab sich den Anschein von Mitgefühl.
»Nichts verstehen Sie«, erwiderte Vossius heftig, »aber auch gar nichts! Wenn ich Ihnen die Vorgeschichte erzählen würde, würden Sie mich erst recht für geisteskrank erklären.«
Le Vaux nickte und betrachtete die Injektionsspritze zwischen seinen Fingern mit einem gewissen Wohlgefallen, wie es ein Erpresser empfinden mag, der sein Opfer mit geladener Waffe in Schach hält. »Erzählen Sie sie mir trotzdem«, meinte er gönnerhaft.
»Legen Sie die Spritze weg!« forderte Vossius. Der Doktor folgte der Aufforderung, und Vossius dachte angestrengt nach.
»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen meine Situation erklären soll«, begann er umständlich, »sage ich Ihnen die Wahrheit, dann halten Sie mich mit Sicherheit für verrückt.«
»Vielleicht sollten wir uns morgen darüber unterhalten!« wandte Le Vaux ein.
»O nein«, widersprach Vossius heftig. Er hegte noch immer die Hoffnung, der Psychiater würde merken, daß er, Vossius, hier am falschen Platz sei, daß er so normal sei wie jeder andere, und er fügte hinzu: »Morgen ist meine Situation dieselbe wie heute.«
Le Vaux waren Situationen wie diese nicht fremd. Er kannte die Hemmungen, die einen Geistesgestörten befallen, seine Tat zu begründen, nur zu gut, und er hatte die Erfahrung gemacht, daß diese Zurückhaltung mit der Intelligenz des Patienten wächst. Zweifellos hatte er es bei Vossius mit einem überdurchschnittlich intelligenten Mann zu tun. Um Vossius das Reden zu erleichtern, bediente er sich eines alten Psychiatertricks, indem er zum Fenster ging, die Arme auf den Rücken verschränkte und scheinbar gelangweilt nach draußen blickte, als wollte er sagen: Sie können sich ruhig Zeit lassen. Er hatte Erfolg.
»Sie glauben natürlich, ich hätte die Säure in einem Anfall geistiger Umnachtung auf das Leonardo-Gemälde geschüttet«, begann Vossius mühsam, »aber glauben Sie mir, ich war bei klarem
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