Das Fuenfte Evangelium
Treppenhaus. Vossius' erster Gedanke war, das könne er sich doch nicht gefallen lassen, ja, er zog sogar in Erwägung, sich loszureißen und fortzurennen, so schnell er konnte. Aber dann siegte die Besonnenheit und die Einsicht, daß dieses Verhalten nur als ein weiterer Beweis für Paranoia gewertet werden könnte, und er ergab sich seinem Schicksal.
5
D as Fahrzeug, in das ihn die beiden mit infantilen Worten hineinkomplimentierten, hatte vergitterte Fenster und ähnelte mit seinem hohen Kastenaufbau eher einem weiß angestrichenen Gemüsetransporter. Mit Unbehagen nahm Vossius zur Kenntnis, daß die Schiebetür des Wagens, kaum hatte er auf der Sitzbank im hinteren Teil Platz genommen, von außen verriegelt wurde. Auf seine Frage, die er durch das ebenfalls vergitterte Fenster zur Fahrerkabine stellte und mit der er sich nach dem Zielort der Reise erkundigte, erhielt Vossius die Antwort, er möge sich beruhigen, man sei besorgt um sein Befinden, alles geschehe nur zu seinem Besten; eine Auskunft, die ihn mehr in Unruhe versetzte, als daß sie geeignet schien, ihn zu besänftigen.
Während der Fahrt über den Boulevard Saint Michel Richtung Port Royal legte Vossius sich einen Plan zurecht, wie er der zu erwartenden Behandlung begegnen sollte. Jedenfalls nahm er sich vor, allen Anforderungen mit betonter Höflichkeit nachzukommen, mit seinem Verhalten keine Angriffsfläche zu bieten und sich erst einem Gutachter zu offenbaren, von Professor zu Professor sozusagen.
Am Hospital St. Vincent de Paul bog der Wagen nach rechts ab, auf ein Hupzeichen öffnete sich ein schweres Eisentor, und im Vorbeifahren erkannte Vossius ein weißes Schild mit der Aufschrift ›Psychiatrie‹. Du darfst jetzt nur nicht die Nerven verlieren, sagte er zu sich selbst, ohne die Lippen zu bewegen, und er kam der Aufforderung der Pfleger, sie in das Innere des langgestreckten Gebäudetraktes zu begleiten, ohne Murren nach. Das Echo, das ihre Tritte in dem endlosen Gang verursachten, konnte einem Angst einflößen.
Am hinteren Ende klopfte einer der Pfleger gegen eine Tür, ein weißhaariger Arzt mit dunklen, buschigen Brauen öffnete, nickte, als habe er sie erwartet, und streckte Vossius die Hand entgegen: »Doktor Le Vaux.«
»Vossius«, erwiderte Vossius und versuchte ein Lächeln, das ihm jedoch so gründlich mißlang, daß er den peinlichen Versuch sofort bereute und ein Gesicht machte, das den Ernst der Situation unterstrich. »Professor Marc Vossius.«
»Der Säureattentäter; außerdem Suizidversuch auf dem Eiffelturm«, sagte der andere Pfleger und übergab Le Vaux ein Papier, dann verließen die beiden den Raum durch eine Tür in entgegengesetzter Richtung. Der Doktor betrachtete währenddessen die Karteikarte mit ausgestrecktem Arm, legte sie auf einen weißen Schreibtisch aus Stahlrohr und forderte Vossius auf, auf einem Hocker mit schwarzem Plastikbezug Platz zu nehmen. Es stank auf unerklärliche Weise nach Hering.
»Doktor Le Vaux«, begann Vossius mit dem Vorsatz möglichst ruhig zu bleiben, »ich muß mit Ihnen reden.«
»Später, mein Lieber, später!« unterbrach Le Vaux und drückte den Patienten mit beiden Händen an den Schultern auf den Sitz.
»Die Sache ist nämlich so …«, versuchte Vossius erneut ein Gespräch, doch Le Vaux ließ sich nicht beirren und wiederholte, während er Vossius' Augenlider nach oben zog: »Später, mein Lieber, später!« Das klang zum einen wie tausendmal gesagt und andererseits so, als wolle er dem, was er zu hören bekam, ohnehin keine Beachtung schenken.
Wie ein Mechaniker, der einem vorgeschriebenen Inspektionsplan an einem Fahrzeug nachkommt, preßte Le Vaux ihm beide Daumen gegen die Backenknochen, vollführte mit Zeige- und Mittelfinger kreisende Bewegungen über seine Schläfen und fragte dabei teilnahmslos, ohne überhaupt eine Antwort abzuwarten: »Tut das weh?« Mit einem Gummihammer schlug er, dieselbe Frage mit derselben Teilnahmslosigkeit gebrauchend, gegen Vossius' Stirn und danach gegen das rechte, über das linke geschlagene Knie.
Vossius verneinte; im übrigen vermochte er sich nicht auszumalen, was geschehen wäre, wenn er gesagt hätte, ja, er verspüre Schmerz. Er war zutiefst verzweifelt, weil er ahnte, daß er in ein System geraten war, das ihm keine Chance ließ auszubrechen.
Während Le Vaux an seinem Schreibtisch Notizen machte, zog er seine buschigen Brauen zusammen, als dächte er angestrengt nach. »Erzählen Sie von Ihrer Kindheit!« sagte er
Weitere Kostenlose Bücher