Das Fuenfte Evangelium
richtete Anne an Kleiber die Frage: »Hältst du diesen Vossius für schizophren? Ich meine, glaubst du, er wird zu Recht in St. Vincent festgehalten?«
»Der Mann ist so normal wie du und ich«, erwiderte Kleiber, »ich glaube nur, daß er eine ungeheure Last mit sich herumschleppt, irgend etwas, das ihn an den Rand der Verzweiflung getrieben hat. Aber ich habe Zweifel, ob er uns wirklich weiterhelfen kann. Es will mir nicht in den Kopf, daß zwischen Leonardo da Vinci und deinem Pergament ein Zusammenhang bestehen soll.«
»Wenn Vossius uns nicht helfen kann, dann keiner«, erwiderte Anne. »Immerhin wissen wir doch schon soviel, daß der Name ›Barabbas‹ als Symbol für eine reichlich undurchsichtige Geschichte steht, mit der sich in der Vergangenheit Leute auseinandergesetzt haben, die zu den bedeutendsten Köpfen zählen. Mir erschien die Erklärung des Professors am Anfang auch weit hergeholt, aber je länger ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu der Überzeugung: Der Mann hat recht. Jedenfalls ist Leonardo da Vinci für manchen Schabernack gut. Man weiß, daß er schon zu Lebzeiten seine Mitmenschen an der Nase herumgeführt hat, wenn er etwa in Spiegelschrift schrieb, und die Sache mit der Halskette ist gewiß auch eine von diesen Teufeleien.«
»Aber der Zusammenhang, ich sehe keinen Zusammenhang.«
Dem konnte Anne nur beipflichten: »Den sehe ich auch nicht. Wüßten wir den Zusammenhang, wüßten wir vermutlich auch die Lösung.«
»Und die wird er uns nicht auf die Nase binden.«
Anne nickte.
»Es sei denn –«, Kleiber dachte nach.
»So rede doch!«
»Es sei denn, wir machen mit Vossius ein Geschäft.«
»Ein Geschäft?«
»Na ja«, schränkte Adrian ein, »Geschäft ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Vertrag wäre vielleicht treffender.«
»Du sprichst in Rätseln.«
»Erinnere dich«, begann Kleiber, »erinnere dich, als wir Vossius zum ersten Mal trafen. Was waren da seine ersten Worte?«
»Holt mich hier raus!«
»Das sagte er. Ich glaube, die Geschichte, die er uns erzählte, hat er nur deshalb erzählt, weil er beweisen wollte, daß er bei klarem Verstand ist. Den Ärzten vertraut er nicht. Die haben ihn bereits abgeschrieben. Wer Säure auf ein Gemälde spritzt, muß verrückt sein. Also erwartet er von uns, daß wir ihm helfen; deshalb kam ihm die Idee, daß du seine Nichte seiest, ganz gelegen, und er hat sofort bereitwillig mitgespielt. Nein, der Professor ist kein Fall für die Psychiatrie, und wir müssen ihm klarmachen, daß das unsere Überzeugung ist und daß wir bereit sind, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um ihn dort herauszuholen, wenn er uns die ganze Wahrheit um Barabbas beichtet.«
»Keine schlechte Idee«, stellte Anne fest, »aber Vossius wollte sich vom Eiffelturm stürzen, er ist ein Selbstmordkandidat, und alle, die versuchen sich das Leben zu nehmen, landen in der Psychiatrie.«
»Ich weiß, ich weiß«, entgegnete Kleiber, »aber sie werden nicht bis an ihr Lebensende eingesperrt. Nach einer entsprechenden Therapie läßt man sie meist wieder frei. Im übrigen verstehe ich ohnehin nicht, warum Vossius seinem Leben ein Ende setzen wollte. Ich würde ihm durchaus zutrauen, daß er das Ganze aus irgendeinem Grund nur inszeniert hat. Daß er aber dabei die Folgen nicht bedacht haben will, kann ich mir nicht vorstellen. Ich glaube, der Professor hatte einen sorgfältig ausgearbeiteten Plan, aber bei der Ausführung passierte etwas Unvorhergesehenes, und jetzt sitzt er im Irrenhaus. Und gerade das ist unsere Chance.«
Später, am Abend desselben Tages, aßen sie im ›Coquille‹, im 17. Arrondissement, wo die Küche eher traditionell als ›nouvelle‹ ist, was sowohl Anne als auch Adrians Geschmack näher kam; aber was als zwangloses Vergnügen gedacht war, entwickelte sich schon bald zu spannungsgeladenem Schweigen, ausgelöst dadurch, daß ein jeder von ihnen den eigenen Gedanken nachging. Nicht nur Anne, auch Adrian hatte sich inzwischen so sehr in den Netzen dieses Falles verfangen, daß er tun und denken konnte, was er wollte, es endete immer in der Psychiatrie von St. Vincent de Paul bei Professor Vossius.
Anne, soeben noch entschlossen und dank Kleibers Hilfe mit neuem Mut beseelt, sah sich auf einmal wieder einem übermächtigen Gegner gegenüber, dem sie nie beikommen könnte, und sie zweifelte, ob auch Adrian stark genug war. Darüber hinaus quälte sie die Frage, warum ihr selbst noch nichts zugestoßen war, während alle,
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