Das Fuenfte Evangelium
verstrickten sie sich in abenteuerliche Gedankenkonstruktionen, ohne einer Lösung auch nur einen Schritt näher zu kommen. Am Ende, lange nach Mitternacht, waren sie zu der Überzeugung gelangt, der Pfleger würde ihnen Vossius' Mörder nennen. Es kam anders.
Wie vereinbart – Geld geht nicht nur einem Schuft über die Ehre – erschien der Pfleger am folgenden Abend zur selben Zeit in dem Bistro, nahm die Restsumme in Empfang und schob mit der Gelassenheit eines Profis einen verschlossenen braunen Umschlag über den Tisch.
Kleiber riß ihn auf.
»Ein Schlüssel?« sagte Anne in einem Tonfall, der ihre Enttäuschung nicht verhehlte.
Der Umschlag enthielt einen Sicherheitsschlüssel mit der Prägung ›Sécurité France‹, wie er tausendmal vorkommt, sonst nichts.
»Ist das alles?« erkundigte sich Kleiber.
Der Pfleger antwortete: »Ja, das ist alles. Der Schlüssel mag bedeutungslos aussehen, aber wenn ich Ihnen sage, daß Vossius ihn in ein Taschentuch gewickelt unter seinem Kopfkissen versteckt hielt, gewinnt er vielleicht an Bedeutung.«
Kleiber nahm den Schlüssel in die Hand und machte eine Faust. »Da mögen Sie recht haben«, sagte er nach kurzem Nachdenken, »nur solange wir das Schloß nicht kennen, in das der Schlüssel paßt, nützt er so gut wie gar nichts.«
»Alles andere ist Ihre Sache«, sagte der Pfleger. Er nickte kurz und entfernte sich grußlos.
Die folgenden zwei Tage durchlebten sie wie in einem Alptraum. Selbst Adrian, sonst nie um einen Einfall verlegen, schien am Ende, und er versuchte Anne zu überreden, mit ihm das nächste Flugzeug zu besteigen und in die Sonne zu fliegen, nach Tunesien oder Marokko, jedenfalls riet er dringend davon ab, alleine zurück nach München zu reisen.
Anne lächelte müde. Im Grunde genommen war ihr alles egal. Sie war von der quälenden Angst befallen, Adrian würde der Nächste sein, dem etwas zustoßen könnte. Auszusprechen wagte sie den Gedanken nicht, aber unmerklich für den anderen drehte sich alles um diese Vorstellung, und sie suchte nach einer Möglichkeit, wie sie Kleiber da heraushalten könnte. Andererseits fühlte sie sich viel zu schwach, die Geschichte allein, ohne Adrians Hilfe, durchzustehen, und sie war geneigt, Kleibers Drängen auf eine gemeinsame Urlaubsreise nachzugeben, als sie plötzlich auf eine Spur stießen, die dem Ganzen eine neue Wendung gab.
Anne hatte Adrian den Film mit den Aufnahmen des koptischen Pergaments ausgehändigt, und Kleiber hatte im Fotolabor neue Kopien herstellen lassen mit dem Plan, nun seinerseits einen Experten aufzusuchen, der den mysteriösen Text, von dem nur der Name Barabbas bekannt war, übersetzen könne. Und weil die fotografischen Aufnahmen ›ziemlich stümperhaft‹ gefertigt worden seien – wie der Laborant sich ausdrückte –, fertigte dieser ein gutes Dutzend Vergrößerungen, die sich in Belichtung und Kontrast alle etwas voneinander unterschieden, so daß der Text auf dieser hier, auf jener da besser zu erkennen war.
Dieses Ergebnis allein war es nicht, das Anne in helle Aufregung versetzte, sondern es waren vier Finger am linken Bildrand einer dieser Vergrößerungen (das Original war offensichtlich von einem Helfer einfach vor die Kamera gehalten worden, was die schlechte Bildqualität hinreichend erklärte). Genaugenommen waren es dreieinhalb Finger, denn vom Zeigefinger des Unbekannten fehlte die obere Hälfte: »Donat!«
»Donat?«
»Der Mann mit der Frau im Rollstuhl! Ich habe ihm von Anfang an nicht geglaubt. Die Frau, die bei Guido im Unfallauto saß und nach zwei Tagen aus der Klinik verschwunden ist, gab sich als seine Frau aus. Donat konnte sich das alles nicht erklären. Er lügt, er lügt, er lügt!«
»Und diesem … Donat fehlte die obere Hälfte seines rechten Zeigefingers, da bist du sicher?«
»Ganz sicher«, erwiderte Anne, »ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Aber Donat spielte den Ahnungslosen. Warum tut er das? Was hat er zu verheimlichen?«
Anne fürchtete sich; sie fürchtete sich vor den neuen Fragen, die mit dieser Entdeckung auftauchten. Genaugenommen war sie jetzt keinen Schritt weiter als am Tage nach Guidos Unfall. Im Gegenteil, ihre Nachforschungen hatten den Effekt archäologischer Ausgrabungen: Je mehr sie entdeckte, desto mehr Fragen tauchten auf, und sie wünschte es dabei belassen zu haben, daß Guido ein Verhältnis und sie auf perfide Weise hintergangen hatte.
Ihr war, als ob sie mitten in einem Stück steckte, in dem sie gegen
Weitere Kostenlose Bücher