Das Fuenfte Evangelium
die ihr Leben kreuzten, auf unerklärliche Weise zu Schaden kamen. Guido tot, Rauschenbach ermordet, Guthmann verschollen. Sie sah Kleiber an und versuchte, als wolle sie den Gedanken vertuschen, zu lächeln – vergebens.
Der vermochte die Betroffenheit in Annes Gesicht nicht zu deuten, aber jede Frage erübrigte sich. Die Zuneigung, die er bei ihrem ersten Wiedersehen empfunden hatte, war einer ungeheueren Nervosität gewichen. Er hätte sich gewünscht, dieser Frau unter günstigeren Umständen begegnet zu sein, doch Adrian war nicht der Mann, der es nicht verstanden hätte, eine Situation zu seinen Gunsten umzumünzen. Nein, Kleiber hoffte, durch seine Unterstützung Anne für sich zu gewinnen, und nichts fördert die Zuneigung mehr als ein gemeinsamer Gegner.
8
A ls sie am folgenden Tag in St. Vincent de Paul ankamen, schien man sie bereits zu erwarten. Aber der Stationsarzt führte Anne und Adrian nicht in das Besucherzimmer, sondern in das Büro von Doktor Le Vaux, ohne eine Erklärung abzugeben. Der Chefarzt berichtete mit einer gewissen Verlegenheit, die einem Mann seines Standes in dieser Situation nicht zukam, Professor Vossius sei in der vergangenen Nacht an einem Herz-Kreislauf-Versagen gestorben, er bedauere das sehr und spreche ihnen, den nächsten Angehörigen, sein tiefes Mitempfinden aus.
Auf dem endlos langen Gang, wo es wie immer nach Bohnerwachs roch, mußte Anne von Kleiber gestützt werden. Nicht daß sie so tiefe Trauer empfunden hätte über Vossius Tod – obwohl dieser in den zwei Tagen durchaus ihre Zuneigung gefunden hatte –, Anne traf der Tod des Professors vor allem deshalb, weil er einer furchtbaren Gesetzmäßigkeit unterlag, an die sie nicht hatte glauben wollen. Daß Vossius' Tod ein Zufall gewesen sei, daran hatte Anne von Anfang an nicht glauben wollen, und wie in allen vorangegangenen Fällen erkannte sie weder einen möglichen Grund noch einen Zusammenhang.
Wie im Traum und völlig ratlos tappte sie an Adrians Arm den stinkigen Korridor entlang, das breite, steinerne Treppenhaus hinab, wo sie der Pfleger, der während ihrer Besuche wortlos und mit blödem Gesichtsausdruck neben der Tür gesessen hatte, erwartete. Er trat Kleiber entgegen, raunte ihm etwas zu, das Anne nicht verstand, das sie in dieser Situation auch nicht interessierte, und kam nach einem kurzen Wortwechsel mit Kleiber zu der Übereinkunft, sich um 19 Uhr in einem Bistro nicht weit von hier in der Rue Henri Barbusse gegenüber dem Lycée Lavoisier zu treffen.
An Anne von Seydlitz war die ungewöhnliche Vereinbarung vorbeigegangen wie ein Trugbild, das einem im Halbschlaf begegnet, und Adrian klärte sie erst zu Hause über das Angebot des zwielichtigen Pflegers auf. Er habe, berichtete Kleiber, eine Andeutung gemacht, er könne ihnen zum Tode des Professors eine wichtige Mitteilung machen, und auf seinen Einwand, warum das nicht an Ort und Stelle geschehen könne, geantwortet, das sei viel zu gefährlich.
Was auch immer hinter der Wichtigtuerei des Pflegers stecken mochte – Adrian und Anne konnten sich beim besten Willen nicht vorstellen, daß der tölpelhafte Mann ihnen in irgendeiner Weise weiterhelfen könnte –, so mußten sie doch dem unbedeutendsten Hinweis nachgehen, der geeignet schien, die Situation in irgendeiner Art zu erhellen.
Das Bistro war für Pariser Verhältnisse ungewöhnlich groß und unübersichtlich; deshalb hatte es der Pfleger wohl auch ausgesucht. Dieser entpuppte sich als ein unerwartet wendiger Mann mit flinker Auffassungsgabe. Jedenfalls wußte er genau, was er wollte, als er geradeheraus erklärte, Pfleger in psychiatrischen Anstalten würden verachtenswert schlecht – er gebrauchte das Wort méprisable – bezahlt und müßten deshalb anderweitig sehen, wo sie blieben. Kurz, er könne ihnen Angaben über den wahren Sachverhalt des Todes des Professors machen und in seinem Besitz befinde sich eine Hinterlassenschaft, die ihnen in ihrem Fall vielleicht von Nutzen sein könnte.
Von welchem Fall er spreche, erkundigte sich Kleiber, und der Pfleger berichtete, wobei er zu beider Verblüffung plötzlich vom Französischen in ein gebrochenes, aber durchaus verständliches Deutsch wechselte, er habe die Unterhaltungen zwischen ihnen und Vossius während der letzten Tage mit großer Spannung verfolgt. Auf die Frage, woher er so gut Deutsch könne, antwortete der Gefragte, er habe eine deutsche Frau, vor allem aber deutsche Schwiegereltern, die kein Wort Französisch
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