Das Fuenfte Evangelium
mußte befürchten, der Stationsarzt könnte jeden Augenblick in das Zimmer treten und das Gespräch abrupt beenden. Ungeduldig bedrängte sie daher Vossius: »So erklären Sie uns doch den Zusammenhang zwischen der Halskette, die Leonardo nicht für jedermann sichtbar gemalt hat, und dem koptischen Pergament!«
Vossius nickte. Man konnte ihm ansehen, daß er die Situation genoß wie eine Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht, und je mehr Anne drängte, desto zurückhaltender wurde der Professor. »Fest steht«, sagte er schließlich, »daß beide dasselbe Wissen hatten, der Urheber Ihres Pergamentes und Leonardo da Vinci; denn sie gebrauchten dasselbe Codewort.«
Anne und Adrian sahen sich ratlos an. Der Mann machte es ihnen nicht leicht, er stellte ihre Geduld auf eine harte Probe, und bei Kleiber stellten sich Zweifel ein, ob der Professor wirklich mit normalen Maßstäben gemessen werden konnte, ob er ein von seiner Wissenschaft Besessener war, dem man mit Nachsicht begegnen mußte, oder ein bedauernswerter Psychopath.
6
V ossius nahm das Foto und hielt es senkrecht wie eine Trophäe. Mit den Fingern der rechten Hand berührte er die Stelle, an der die Halskette zu sehen war, acht verschiedene von goldenen Blütenranken gefaßte und so aneinandergereihte Edelsteine im Cabochon-Schliff.
»Acht Edelsteine«, stellte der Professor fest, »scheinbar ein Schmuckstück, nichts weiter, und doch sind es ganz besondere Steine, und ein jeder hat seine bestimmte Bedeutung. Beginnen wir links, dem Betrachter zugewandt. Der erste weißlichgelbe Stein ist ein Beryll, ein Stein mit eigener Geschichte. Er gilt als Monatsstein der im Oktober Geborenen und wurde im Mittelalter gemahlen und in Flüssigkeit zubereitet, um Augen zu heilen. Später entdeckte man seine vergrößernde Wirkung, wenn man ihn entsprechend schliff. Daher stammt das Wort Brille. Der zweite, blaßblaue Stein ist ein Aquamarin, ein dem Beryll verwandter Edelstein, der seine Farbe von blau bis meergrün wechselt. Den dunkelroten, dritten Stein kennt jeder. Es ist ein Rubin. Ihm wurde ebenfalls heilende Wirkung zugeschrieben, und man findet ihn als Machtsymbol an Kaiser- und Reichsinsignien. Violett ist der vierte Stein, ein Amethyst, der Monatsstein für die im Februar Geborenen und von ungeheurer Symbolkraft. So galt er als Amulett gegen Gift und Trunkenheit, aber auch als Symbol der Dreifaltigkeit, weil er drei Farben enthält: Purpur, Blau und Violett. Er soll zu den Steinen gehört haben, die den Brustschild des Hohenpriesters und das Fundament der Mauer des himmlischen Jerusalem zieren. Obwohl von verschiedener Farbe, sind die folgenden zwei Edelsteine, der fünfte und der sechste, wiederum Berylle. Der siebente, ein schwarzer Achat, ist eigentlich nur ein Halbedelstein, doch Antike und Mittelalter begehrten ihn als gemahlenes Aphrodisiakum, und aus unerfindlichen Gründen wurde er mit Vorliebe als Zierstein von kirchlichen Gerätschaften verwendet. Bleibt der letzte Stein, der grüne Smaragd, ein Stein, der vor allem zur Zeit Leonardo da Vincis in hohen Ehren stand. Er gilt als Symbol des Evangelisten Johannes, außerdem als Zeichen der Keuschheit und Reinheit und wurde im Mittelalter als besonders heilsam verehrt. Acht Steine aneinandergereiht, scheinbar zufällig, und doch ist es kein Zufall, wie Leonardo diese Kette malte, so wie nichts Zufall ist im Leben. Lesen Sie die acht Anfangsbuchstaben der Edelsteine von links nach rechts, so wie ich sie Ihnen beschrieben habe – und dabei spielt es keine Rolle, ob Sie sich in deutscher oder, wie Leonardo, in italienischer Sprache verständigen –, dann erhalten Sie ein Wort, das Sie vielleicht überraschen wird.«
Anne von Seydlitz preßte beide Hände zu einer Faust zusammen und blickte gebannt auf die Fotografie. Dann las sie: »B-A-R-A-B-B-A-S. Mein Gott«, stammelte sie leise, »was hat das zu bedeuten?«
Vossius schwieg. Auch Adrian sagte nichts. Den Blick auf die Fotografie gewandt, kontrollierte er in Gedanken die Buchstabenfolge. Der Professor hatte recht: BARABBAS.
Aber noch ehe die beiden die ganze Tragweite dieser Eröffnung begriffen hatten und noch bevor sie eine Frage stellen konnten, trat der Stationsarzt in das Besucherzimmer und beendete mit einer unverschämten Geste, indem er lautstark in die Hände klatschte, die Unterredung. Vossius erhob sich, nickte freundlich und verschwand in Begleitung des Pflegers auf den Gang.
7
W ährend sie im Wagen den Pont St. Michel überquerten,
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