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Das Fuenfte Evangelium

Das Fuenfte Evangelium

Titel: Das Fuenfte Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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kam der Institution wohl am nächsten. »Ist es schon einmal vorgekommen, daß ein Mitglied Ihrer Gemeinschaft, ich meine, gab es schon einen Fall –«
    »In den letzten Jahren nur einmal«, entgegnete Thales, der sofort begriff, was der andere meinte, und rückte seine randlose Brille zurecht, was, wie Guthmann längst in Erfahrung gebracht hatte, ein untrügliches Zeichen für Unmut war. »Es steht jedem frei auszusteigen«, fügte Thales hinzu, »aber wir erwarten von einem Aussteiger, daß er nicht mehr in das normale menschliche Leben zurückkehrt. Für solche Fälle gibt es den Phrygischen Felsen.«
    »Ich verstehe nicht.«
    »Die Phryger in Kleinasien pflegten Verbrecher von einem Felsen zu stürzen, einem Geständigen stellten sie aber auch anheim, selbst von dem Felsen zu springen. Eine vornehme Art der Todesstrafe. So wurde dies früher bei uns gehandhabt, heute sind wir humaner. Die moderne Biochemie gibt uns inzwischen Mittel und Wege, uns des Schweigens eines jeden Mitwissers zu versichern.«
    Der Landrover überquerte in langsamer Fahrt einen schmalen Steg, der eine zerklüftete Schlucht überspannte. In der Dunkelheit war der Grund nicht zu erkennen. Der Motor jaulte in niedriger Übersetzung, als der Weg steil bergan ging, so steil, daß die Scheinwerferkegel ins Leere stießen wie die Lichter eines Leuchtturmes. Dann auf einmal neigte sich die Schnauze des Fahrzeugs nach unten, weil es ebenso steil bergab ging, und Guthmann erkannte dunkle Häuser um einen hellerleuchteten Platz, auf dem noch reges Treiben herrschte.
    Im Näherkommen sah er Menschen mit verblödeten Gesichtern, Männer mit seltsamen Fratzen und Frauen, die scheinbar grundlos in gellendes Gelächter ausbrachen. Kinder liefen herum mit Köpfen so groß wie Melonen auf normal entwickelten, kleinen Körpern, und ein weißgekleideter Alter mit haarlosem Kopf zog an einer Schnur ein hölzernes Spielzeugschiff hinter sich her. Einige winkten freundlich oder traten im Vorbeifahren an die Fenster der Autos und schnitten Grimassen wie kleine Kinder.
    »Keine Angst«, sagte Thales, der Guthmanns ratlosen Gesichtsausdruck erkannte, »die sind alle harmlos, bedauernswerte Geschöpfe, denen die Natur den normalen Verstand versagt hat. Aber was heißt schon normal. Sie wissen selbst, daß der Grad vom Genie zum Irresein nur schmal ist. Offiziell ist Leibethra eine Kolonie für geistig Behinderte; sie wird von unserem Orden getragen. Das schafft uns Anerkennung und die Gewißheit, daß man uns in Ruhe läßt. Wir schützen uns gleichsam durch einen Kreis von Irrsinn.«
    »Wie soll ich das verstehen?«
    »Ein jeder, der zu uns vordringen will, muß zuerst durch diese Kolonie.«
    Der Fahrer hupte heftig, um den Weg durch das Dorf freizumachen; durch das geöffnete Seitenfenster stieß er bisweilen laute Schreie aus, als wollte er die neugierig vor das Auto drängenden Menschen erschrecken.
    Hinter einer Biegung tauchte ein hell beleuchtetes Eisentor auf, das direkt in den Berg führte und das sich bei Annäherung des Wagens wie von Geisterhand öffnete. Dahinter lag eine Halle mit einem Gewölbe aus Felsengestein. Im Hintergrund parkten mehrere Geländewagen, zur Linken summten hinter einem Absperrgitter mehrere Stromaggregate, und die Wand gegenüber wurde von zwei Aufzügen eingenommen, wie man sie heute nur noch in alten Mietshäusern finden kann, aus rötlichem Mahagoniholz und mit geschliffenen Glaseinsätzen in den Türen.
    »Hier sind wir«, sagte Thales, als der Aufzug anhielt, und bat den Fremden auszusteigen. »Das Gepäck wird Ihnen gebracht. Kommen Sie.«
2
    G uthmann hatte ein Kloster erwartet, aber das hier machte eher den Eindruck eines Hotels. Er staunte.
    »Sie haben sich das wohl alles etwas anders vorgestellt?«
    »Und ob!« erwiderte der Besucher. »Weniger Luxus, mehr Askese.«
    Von irgendwoher drang, als sie den Aufzug verließen, klassische Musik. Sessel aus blankem Holz und Korbstühle, wie sie in der Gegend von den Einheimischen hergestellt wurden, standen wohlgeordnet auf dem glänzenden Steinfußboden eines hellerleuchteten, halbmondförmigen Vorraumes. Auf der dem Lift gegenüberliegenden Seite sah man eine Flucht kleiner Rundbogenfenster. Korridore führten zu beiden Seiten in entgegengesetzte Richtungen. Das Ganze vermittelte einen weiträumigen Eindruck und schien weit entfernt von der räumlichen Enge der Meteora-Klöster.
    Thales wies den Fremden auf die linke Seite, wo eine schmale Treppe nach oben führte, zu einer

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