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Das Fuenfte Evangelium

Das Fuenfte Evangelium

Titel: Das Fuenfte Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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Art Galerie, von der in regelmäßigen Abständen zwei dicht nebeneinanderliegende Türen abgingen, ein Paar, das in Form und Farbe des Rahmens jeweils mit einem zweiten Türenpaar auf der gegenüberliegenden Seite harmonierte. Während sie den langen Korridor entlangschritten, fiel Guthmann auf, daß sie niemandem begegneten; aber dennoch wirkte die menschenleere Architektur weit weniger unheimlich als der von Menschen angefüllte Dorfplatz.
    »Um auf Ihre Bemerkung zurückzukommen«, sagte Thales im Gehen, und er verbesserte sich sofort: »Um auf Eure Bemerkung zurückzukommen: Askese ist eine bewundernswerte Sache, aber ein Asket ist noch lange kein Weiser. Nichts gegen Askese im Sinne von Bedürfnislosigkeit! Wenn Diogenes nur eine Tonne brauchte, in der er lebte, so ist dagegen nichts einzuwenden; denn Diogenes hat sich diese Lebensweise selbst gewählt und war glücklich dabei. Aber die mönchische Askese ist nichts weiter als ein Mißverständnis. Paulus hat die Philosophie der griechischen Stoiker einfach nicht verstanden und sah darin ein probates Mittel im Kampf gegen Laster und Untugenden. Christliche Askese ist auf Unterdrückung und Zerstörung der menschlichen Natur gerichtet, nicht nur der geschlechtlichen Lust, sondern auch der Lust des Anschauens, des Hörens, des Schmeckens. Die wahre stoische Philosophie aber lebte das Leben in Übereinstimmung mit der Natur. Hätte die Kirche recht, so wären alle Klöster Horte des Glücks, des Friedens und der Wahrheit; aber wie sieht die Wirklichkeit aus? Sie werden kaum einen Ort auf Erden finden, in dem Unglück, Feindschaft und Lüge so verbreitet sind wie in einem Kloster.«
    Guthmann hielt inne und sah Thales erschrocken an: »Aus Euch spricht Verbitterung, Thales, tiefe Verbitterung.«
    »Ihr glaubt mir nicht?«
    Da hob Guthmann die Schultern.
    »Ihr könnt mir jedes Wort glauben, Professor, ich weiß, wovon ich rede, ich habe ein halbes Leben hinter Klostermauern verbracht und habe ein halbes Leben nur von einem geträumt, von Willensfreiheit. Könnt Ihr Euch vorstellen, was das bedeutet? Nein. Das kann nur der nachempfinden, der in der Selbstkasteiung gelebt hat. Alles Wirkliche und Wirkende auf dieser Erde ist körperhaft, und die Kraft des Menschen ist nicht etwas Immaterielles oder Abstraktes, die wahre Kraft des Menschen, mit der er Berge versetzen kann, ist die Willensfreiheit. Das richtige vernunft- und naturgemäße Begehren und Meiden, Tun und Lassen verbürgt allein das wahre Glück des Menschen. Eine Kutte beraubt den Menschen der Hälfte seiner geistigen Fähigkeiten.«
    »Ihr wart Mönch?«
    Thales neigte den Kopf nach unten, und Guthmann erkannte auf dem Scheitel einen Kranz degenerierten Haarwuchses, Reste einer ehemaligen Tonsur. »Kapuziner«, sagte Thales, ohne den anderen anzusehen. »Sie rasieren Euch solange einen Heiligenschein auf die Birne, bis Eure Haare resignieren. Der Akt ist symptomatisch. Askese bis zur Selbstaufgabe. Aber irgendwann habe ich begriffen, daß es wenig Sinn macht, wenn auf Eurem Grabstein steht: ›Er hat gelebt wie ein Heiliger‹ und Milliarden Menschen fragen: ›Und welchen Dienst hat er der Menschheit erwiesen?‹ Aber ich will Euch nicht mit meiner Geschichte langweilen.«
    »O nein«, wehrte Guthmann ab, »Ihr langweilt mich in keiner Weise. Im Gegenteil, ich denke nach.«
    »Und ich glaubte schon, ich hätte Euch erschreckt!«
    »Ganz gewiß nicht«, log Guthmann, »nur« – er machte eine verlegene Pause – »die von Euch propagierte totale Willensfreiheit würde in letzter Konsequenz bedeuten, daß Ihr hier auch Frauen Platz bietet.«
    »Natürlich«, erwiderte Thales wie selbstverständlich. »Ich sagte Euch doch, das hier ist kein Kloster, eher eine Bewegung. Wir erheben den Anspruch, die klügsten Köpfe in unseren Reihen zu haben, also würden wir uns doch selbst ad absurdum führen, wenn es hier nur Männer gäbe.«
    »Und das schafft keine Komplikationen?«
    Thales lachte. Mit Verwunderung stellte Guthmann fest, daß der Mann, den er schon sieben Tage begleitete, zum ersten Mal lauthals lachte. »Und ob«, rief er. »Das ist doch ein Naturgesetz: das gegensätzliche Verhalten von Mann und Frau, die Entfaltung einer Weisheit nach zwei entgegengesetzten, aber doch sich gegenseitig bedingenden und ergänzenden Richtungen schafft die sogenannte Urspannung. Aber Spannung ist eine der faszinierendsten Erscheinungsformen unseres Geistes.«
    Während er das sagte, öffnete Thales eine

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