Das Fuenfte Evangelium
ihren Willen eine Rolle übertragen bekommen hatte, wobei sie weder die Mitspieler kannte noch den Text. Aber ob sie wollte oder nicht, sie mußte ihre Rolle zu Ende spielen.
Viertes Kapitel
L EIBETHRA dem Wahnsinn nahe
1
N ach knapp einer Stunde Autobahnfahrt durch die Nacht vom Flughafen Thessaloniki in Richtung Süden nahm der grüne Landrover die Ausfahrt Katerini. Katerini ist ein hübsches, kleines Landstädtchen im Nordosten Griechenlands mit dem beinahe 3.000 Meter hohen Olymp im Rücken und einem malerischen Marktplatz, mit Tischen und Stühlen auf den Straßen und leuchtenden nackten Glühbirnen zur Abendzeit und einer Hauptstraße, die weiter nach Südwesten führt, nach Elasson, von wo man die Meteora erreicht, die im Himmel schwebenden Klöster; einst gab es 24, heute sind es noch vier, die bewohnt sind.
Irgendwo auf halbem Weg verlangsamte das Fahrzeug seine Geschwindigkeit und bog nach links in einen Feldweg ab, der in der Hauptsache aus zwei mit Schotter gefüllten Fahrspuren bestand und einer Grasnarbe in der Mitte, und Guthmann begriff, warum sie mit einem Geländewagen abgeholt worden waren. Die beiden Lichtkegel vollführten auf der welligen Fahrspur einen wahren Veitstanz, zur Freude des jungen Chauffeurs übrigens, dem die holperige Reise sichtliches Vergnügen bereitete.
»Noch drei Kilometer bergan«, sagte Thales an Guthmann gewandt, »dann sind wir in Leibethra. Das letzte Stück Weges müssen wir leider zu Fuß gehen.«
Guthmann nickte lächelnd, aber das Lächeln fiel ihm nicht leicht.
Während der Wagen sich im ersten Gang steil bergan quälte, wobei sich eine Kehre an die andere reihte, während rauhe Felswände und steile Abfälle einmal auf dieser, dann auf jener Seite auftauchten, daß sich Guthmanns Magen zu rühren begann, sagte Thales, der auf diesem schlangenhaften Pfad jede Biegung kannte: »Ich möchte Sie noch auf ein paar Besonderheiten aufmerksam machen, die uns erwarten – das heißt, Besonderheiten sind es natürlich nur für Sie, der Sie zum ersten Mal nach Leibethra kommen.«
Guthmann nickte.
»Das beginnt mit der Anrede eines jeden einzelnen. Bei uns gibt es kein ›Sie‹, schon gar kein ›Du‹, wir gebrauchen in der Anrede unserer Ordensmitglieder das ehrerbietige ›Ihr‹, denn der Mensch ist nach unserer Philosophie das Maß aller Dinge. Und weil wir diese Ansicht vertreten, leben wir keineswegs in Askese, wie es den Mönchen von Meteoron, von Agia Trias oder Agios Stephanos nachgesagt wird; wir gehen zwar alle dunkel gekleidet, aber das hat nichts mit Selbstkasteiung zu tun, sondern ist Ausdruck unserer einheitlichen Gedankenwelt. Darum trägt jeder von uns auch seinen Ordensnamen.«
»Ich verstehe«, bemerkte Guthmann andächtig, obwohl er überhaupt nichts verstand und Thales' Bemerkungen ziemlich widersprüchlich fand. Er war nahe daran, seinen Entschluß zu bereuen, aber er hatte sich nun einmal entschieden, alle Brücken hinter sich abzubrechen, und Leibethra war wirklich der sicherste Ort in Europa, um unterzutauchen oder einfach auszusteigen. Und das wollte Guthmann – aussteigen, alle Zwänge hinter sich lassen, eine frustrierende Ehe, den Konkurrenzkampf seines akademischen Berufs und die langweilenden gesellschaftlichen Ereignisse, die einem Mann seines Standes zur Pflicht und ihm daher zutiefst zuwider geworden waren.
Thales sah Guthmann in dem finsteren Auto von der Seite an und meinte: »Sie bereuen doch nicht etwa, daß Sie mit hierhergekommen sind?«
»Aber nein«, beteuerte Guthmann, um seinen Begleiter zu beschwichtigen, »ich bin nur hundemüde. Der Flug und die anstrengende Autofahrt, wissen Sie!«
Hoch über ihnen tauchten in der Ferne auf einmal Lichter auf, die sich wie Glühwürmchen ausnahmen an einem Juniabend.
»Leibethra!« meinte Thales mit einem Fingerzeig, und nach einer Weile fügte er hinzu: »Noch ist es Zeit, noch können Sie es sich überlegen …«
Aber Guthmann fiel ihm ins Wort: »Da gibt es nichts zu überlegen. Mein Entschluß steht fest.«
»Schon gut«, erwiderte Thales, »ich wollte Sie nur warnen, denn ein Zurück gibt es nicht mehr. Aber das habe ich Ihnen ja ausführlich erklärt.«
Guthmann sah die Lichter näher kommen: Leibethra! Er hatte Herzklopfen, zuviel hatte er in den letzten Tagen von diesem rätselhaften Ort gehört. Thales hatte ihm erklärt, welche Menschen sich in diesem Kloster aufhielten. Was heißt: Kloster – Ordensburg hatte Thales die Felsenburg genannt, und dieser Begriff
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