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Das Fuenfte Evangelium

Das Fuenfte Evangelium

Titel: Das Fuenfte Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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unverschlossene Tür, die im oberen Teil mit einer Zeile handtellergroßer Symbole gekennzeichnet war, mit auf dem Kopf und gerade stehenden Dreiecken und Quadraten, die, sah man nur lange genug hin, irgendeinen Sinn ergeben mußten.
    »In Leibethra gibt es keine Zahlen«, bemerkte Thales, der den forschenden Blick des Professors auffing. »Das mag Euch vielleicht verwundern, aber der Mensch braucht keine Zahlen. Wir verwenden sie nur inoffiziell als Mittel zum Zweck, weil viele glauben, sich nur noch in Zahlen ausdrücken zu können. Die Anbetung der Zahl ist eines der größten Übel unserer Zeit. Zahlen wachsen ins Unermeßliche, und eines Tages werden die Menschen von Zahlen gefressen werden wie unsere Organe vom Krebs.«
    Guthmann sagte nichts, aber insgeheim gab er Thales recht. Schon Pythagoras, der Erfinder der Mathematik, behauptete, man könne mit zehn Fingern alles erklären, was diese Welt ausmacht. Das All, der Raum, ist durch drei Dimensionen vollendet, die Zeit besteht aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und jede Realität hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende. Aber noch ehe Guthmann den Gedanken vollenden konnte, versetzte ihn der Anblick, der sich vor ihm auftat, in noch größeres Erstaunen, als er dem ungewöhnlichen Ort bereits entgegengebracht hatte.
    Vor ihm tat sich ein geschmackvoll möbliertes Appartement auf, ein Wohnzimmer mit Fernsehgerät und Telefon, ein Arbeitszimmer mit Bibliothek und ein weißgefliestes Badezimmer, wie man es eher in einem Luxushotel erwartet hätte als in einem Kloster. Während Thales dem Neuen die Räume zeigte, brachte der Chauffeur das Gepäck.
    »Ich hoffe, ich habe nicht übertrieben«, sagte Thales, »es ist alles noch so, wie es Ihr Vorgänger zurückgelassen hat. Ihr könnt Euch selbstverständlich so einrichten, daß Ihr Euch wohlfühlt. In knapp einer Stunde werdet Ihr abgeholt zum gemeinsamen Nachtmahl.«
    Nach diesem Hinweis verschwand er, und Guthmann machte sich Gedanken, ob er das alles wirklich so erlebt oder ob er nur geträumt hatte. Er fühlte sich hundemüde und wußte, daß Müdigkeit in der Lage ist, den Sinnen die unglaublichsten Dinge vorzugaukeln. Aber dann ließ er sich in einen gelbgemusterten Ohrensessel fallen, streckte die Beine aus, sah sich um und war geneigt, sich zu kneifen, ob er Schmerz verspürte. Da klingelte das Telefon.
    »Ja«, sagte Guthmann zaghaft.
    Es war Thales: »Ich vergaß zu sagen: Man trägt dunklen Anzug zum Nachtmahl.«
3
    M erkwürdiger Mensch, dachte Guthmann, aber war nicht alles merkwürdig, was sich in den letzten beiden Wochen ereignet hatte? Woher hatte Thales von der Situation gewußt, in der er, Professor Werner Guthmann, sich befand? Woher hatte er, Guthmann, den Mut genommen, Thales, einem Mann zu folgen, den er überhaupt nicht kannte, der ihm nicht einmal seinen richtigen Namen nannte, ihm nur Versprechungen gemacht hatte, von denen jeder Mensch mit klarem Verstand sagen mußte, daß sie unerfüllbar waren. War Leibethra nicht ein Traum, eine Utopie? War es nicht das Hirngespinst pueriler Philosophen, die gescheitesten Köpfe der Menschheit an einem Ort, unter einem Dach zu versammeln, ein jeder auf seinem Fachgebiet der Größte, um so der Dekadenz des Menschen, die, wie sie sagten, mit der Menschheitsgeschichte begann, entgegenzuwirken?
    Während er so dasaß und darüber nachdachte, ob er nicht einer Narretei aufgesessen war, ein Gedanke, den er seltsamerweise in den vergangenen Tagen nie gefaßt hatte, weil Thales' Worte und Versprechungen so überzeugend geklungen hatten, verging die Zeit im Fluge, und er mußte zusehen, sich eilends für das Abendessen umzuziehen.
    Zum angekündigten Zeitpunkt klopfte es, und Guthmann eilte zur Tür, um zu öffnen. Er hatte Thales erwartet, weil er niemand anderen hier kannte, aber vor ihm stand eine Frau, und sie sagte: »Mein Name ist Helena, ich soll Euch zum Nachtmahl begleiten, Professor.«
    Guthmann stand wie versteinert. Er wußte selbst nicht, wie lange er sprachlos vor der fremden Frau gestanden hatte, unsicher, sie zu sich hereinzubitten oder sie zuerst einmal von Kopf bis Fuß zu mustern. Er entschied sich für letzteres. Helena vermittelte von ihrem Äußeren her den Eindruck von Intelligenz und Strenge, eine häufige Paarung von Eigenschaften, obwohl es überhaupt keinen Grund gibt für diese Verbindung. Ihr Haar trug sie straff nach hinten gekämmt, und es schien, als wollte sie diese Strenge mit einem feuchten Gel noch verstärken. Eine

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