Das Fuenfte Evangelium
das bitte!«
Kleiber ließ nicht locker. »Ich nehme ein Taxi. In zehn Minuten bin ich bei dir.«
»Was soll das!« Anne wurde wütend: »Ich dachte, in dieser Hinsicht wäre alles klar zwischen uns. Also bitte sei vernünftig.«
Aber noch ehe Anne von Seydlitz den Telefonhörer auflegen konnte, hörte sie am anderen Ende der Leitung die Worte: »Bis gleich.« Dann war die Leitung tot.
Anne nahm sich vor, Adrian Kleiber an der Tür zurückzuweisen. Sie ging im Hausflur auf und ab und versuchte sich die passenden Worte zurechtzulegen, mit denen sie den nächtlichen Besucher abweisen wollte; doch als Kleiber eintraf, war ihre Rede vergessen.
»Willst du mich nicht hereinlassen?« fragte Adrian und schob Anne behutsam beiseite. Und noch ehe sie irgend etwas erwidern konnte, fragte er: »Wo ist der Schlüssel, den der Krankenpfleger von St. Vincent de Paul unter Vossius' Kopfkissen gefunden hat?«
Du bist wohl nicht ganz bei Trost, wollte Anne ausrufen, kommst mitten in der Nacht hierher und fragst nach dem Schlüssel unter dem Kopfkissen des Professors; aber dann sah sie Adrian ins Gesicht, und aus diesem Gesicht blickte so viel Ernsthaftigkeit, daß sie wortlos zu dem barocken Schreibsekretär ging und Kleiber den Schlüssel aushändigte.
Der legte ihn auf den Tisch des Salons, griff in seine Jackentasche, zog einen zweiten Schlüssel hervor und legte ihn neben den ersten. Auf dem Tisch lagen zwei gleiche Schlüssel aus gelblich schimmerndem Metall, die Griffe mit einem muschelförmigen Überzug aus Plastik.
Anne betrachtete die beiden Schlüssel, dann sah sie Adrian an und sagte: »Das verstehe ich nicht. Woher hast du den zweiten Schlüssel?«
Adrian lächelte verschmitzt. Er genoß seinen Wissensvorsprung. Schließlich antwortete er, und es klang beinahe komisch: »Das ist mein Hotelzimmerschlüssel.«
»Im Hilton?«
»Ja.«
Jetzt begriff Anne die ganze Tragweite dieser Entdeckung. »Das bedeutet, wenn ich das richtig verstehe, daß Vossius vor seiner Festnahme in einem Hilton-Hotel …«
»… gewohnt hat. Vor allem, daß er in seinem Hotelzimmer, möglicherweise auch in einem Hotelsafe, wichtige Dinge aufbewahrt hat. Sonst hätte er den Schlüssel nicht gehütet wie seinen Augapfel.«
»Aber die Sachen hat man bestimmt längst weggeworfen, wir kommen sicher zu spät.«
»Eben nicht!« erwiderte Kleiber. »Ich habe mich im Hotel erkundigt. Gegenstände, die von Gästen zurückgelassen werden, werden drei Monate aufbewahrt, Schmuck und Wertgegenstände sogar ein halbes Jahr.«
Ihr spontanes Gefühl auf diese Nachricht war Dankbarkeit, und in diesem Gefühl fiel sie Adrian um den Hals, küßte ihn und rief: »Das bedeutet, wir haben eine neue Spur!«
»Ja, wir haben eine Spur«, wiederholte Kleiber. »Es gibt zwar drei Hilton-Hotels in Paris, aber das richtige zu finden dürfte nicht allzu schwer sein.«
Anne lachte befreit: »Was es doch für Zufälle gibt im Leben. Hättest du ein anderes Hotel ausgewählt, wären wir nie auf die Spur gestoßen.«
»Ich wähle nie schlechte Hotels!«
»Natürlich nicht«, entschuldigte sich Anne verschmitzt, »gut, daß du überhaupt ins Hotel gegangen bist.«
»In der Tat. Aber es war ja dein Vorschlag.«
»Man könnte meinen, ich hatte eine Vorahnung. Das gibt es wirklich.«
»Ich weiß«, erwiderte Adrian. »Aber im Grunde ist es müßig, über die Ursachen zu diskutieren, die uns auf diese Spur gebracht haben. Die Hauptsache ist, wir haben eine neue Spur.«
Die zufällige Entdeckung machte den beiden Mut, nachdem sie das Verschwinden Donats tief deprimiert hatte, und sie beschlossen, an einem der nächsten Tage nach Paris zurückzukehren. Anne kam das nicht ungelegen, denn nach nur kurzem Aufenthalt in ihrem Haus hatte sie festgestellt, daß ihre Ängste und Ahnungen nirgends so groß waren wie an diesem Ort.
Gegen Mitternacht verabschiedete sich Kleiber. Sie vereinbarten, sich erst am späten Nachmittag zu treffen, weil Anne in ihrem Geschäft nach dem Rechten sehen wollte. Später, als sie im Bett lag, konnte sie sich lange nicht beruhigen. Sie lauschte unbedeutenden Geräuschen, dem Regen, der eingesetzt hatte, und dem Rauschen vorbeifahrender Autos, die eine Wasserwolke hinter sich herzogen.
Ihre Gedanken kreisten um Vossius, dessen Erklärungen sie ebenso aufgewühlt hatten wie sein jäher Tod. Hätte Vossius nur einen Tag länger gelebt, vielleicht hätte sich das rätselhafte Puzzlespiel bereits zu einem erkennbaren Ganzen zusammengefügt und
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