Das Fuenfte Evangelium
und den besessenen Wissenschaftler, der Schwierigkeiten hatte, sich im alltäglichen Leben zurechtzufinden. Leider habe der zweite den ersteren Menschen in zunehmendem Maße verdrängt, und das sei ihrer Ehe nicht gerade förderlich gewesen. Aber, meinte Mrs. Vossius abschließend, jetzt habe sie vielleicht schon zuviel gesagt.
Anne und Adrian sahen darin eine Aufforderung zu gehen, und sie verabschiedeten sich.
10
A uf der Rückfahrt zu ihrem Hotel, die zuerst schweigend verlief, weil ein jeder seine Gedanken zu ordnen suchte, begann Anne schließlich: »Was hältst du von Mrs. Vossius?«
Kleiber verzog das Gesicht zu einer Grimasse zwischen Lachen und Weinen. »Schwer zu sagen«, entgegnete er, »ich möchte nicht behaupten, daß sie lügt; aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß uns Mrs. Vossius etwas Wichtiges verschwiegen hat.«
»Daß sie nicht gewußt haben will, woran ihr Mann eigentlich arbeitete?«
»Zum Beispiel«, erwiderte Kleiber. »Du kannst nicht acht Jahre mit einem Mann verheiratet sein, ohne zu wissen, womit der Mann sein Geld verdient.«
»Nun ja, gewußt hat sie es ja. Sie kannte nur nicht die Einzelheiten, mit denen Vossius sich beschäftigte. Ich weiß doch auch, was du in deinem Beruf machst, ohne über Einzelheiten Bescheid zu wissen. Ehrlich gesagt, es interessiert mich auch nicht, und so ist es durchaus denkbar, daß Mrs. Vossius sich nicht für seine Arbeit interessiert hat.«
Kleiber schüttelte den Kopf: »Ich kann mir das einfach nicht vorstellen. Der Mann ist nicht nur einmal um die halbe Welt gereist auf der Suche nach irgendeinem kleinen Stück Pergament. Er muß seiner Frau doch erklärt haben, warum ein solches Stück Papier für ihn so wichtig ist. Und wenn er es nicht von sich aus erklärte, hat seine Frau ihn gefragt. Das aber hat Mrs. Vossius abgestritten. Ich glaube das nicht.«
Als sie den Golfplatz des Bonita-Clubs passierten, hielt Kleiber den Wagen an. »Erwähnte Mrs. Vossius nicht, sie hätten hier Golf gespielt?«
»Ja, natürlich«, erwiderte Anne. »Ich glaube, wir haben beide dieselbe Idee.«
Kleiber bog auf den großen Parkplatz ein. Auf der Terrasse des Clubhauses saßen plaudernd ein paar Spieler und tranken Eistee. Anne und Adrian gaben sich als Freunde von Vossius aus Deutschland aus und erkundigten sich, ob jemand den Professor näher gekannt habe.
Was heißt gekannt, sie seien sich begegnet, war die Antwort, aber näher gekannt habe den Professor nur Gary Brandon, sein Assistent, und einer zeigte zum nahen Fairway, wo ein Mann und eine Frau damit beschäftigt waren, einen Ball aus dem Rough zu fischen. Das seien Gary und seine Frau.
Gary Brandon und seine Frau Liz, im Gegensatz zu ihrem Mann ziemlich wohlbeleibt, erwiesen sich als sehr herzlich und zuvorkommend. In einem kurzen Gespräch war zu erfahren, daß Brandon inzwischen Vossius' Nachfolger geworden war. Als Anne den Brandons von Vossius' Tod in Paris erzählte, meinte Liz, ob sie nicht abends zu einem Drink vorbeikommen wollten. Sie würden gerne mehr über die Sache erfahren.
Anne und Adrian kam die Einladung sehr gelegen. Vielleicht war von den Brandons mehr über Vossius und seine Arbeit herauszubekommen.
Gary und Liz wohnten auf Coronado, in der 7. Straße westwärts der Orange Avenue, in einem Bungalow aus Holz mit einem winzigen Vorgarten und einem kleinen Innenhof an der Rückseite, in dem ein kitschiger Springbrunnen plätscherte, dessen Wasserfläche, elektrisch beleuchtet, alle zehn Sekunden die Farbe wechselte wie ein bedrohtes Chamäleon. An den Wänden und auf dem dunkelbraunen, rustikalen Mobiliar hingen und standen gerahmte Fotografien – ein paar Hundert mochten es sein –, die das Ehepaar Brandon im Kreise seiner großen Familie oder zahlreicher Freunde zeigte – die ältesten noch aus den vierziger Jahren.
Das Gespräch kam schnell auf Vossius, der, wie sich herausstellte, in Gary Brandon einen großen Bewunderer hatte. Vossius, so wußte er zu berichten, habe über das sogenannte absolute Gedächtnis verfügt, eine Eigenschaft, die nur einmal unter Millionen vorkommt, und die den Betreffenden in die Lage versetzt, einmal Gelesenes im Gehirn zu speichern und bei Bedarf, auch nach vielen Jahren, Wort für Wort abzurufen. Allein diese Fähigkeit habe Vossius für die vergleichende Literaturwissenschaft prädestiniert. Vossius sei in der Lage gewesen, exakt wie ein Computer zu arbeiten, zu einer Zeit, da alle anderen noch ihre Zettelkästen bemüht
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