Das Fuenfte Evangelium
zu folgen. Zweifellos wußte die Frau mehr, als sie zu hoffen gewagt hatten, doch es würde nicht einfach sein, das wurde immer deutlicher, ihr das Geheimnis zu entlocken.
»Was wollen Sie damit andeuten: Er drehte durch?« fragte Anne.
»Auf der Suche nach Beweisen für seine Hypothese reiste Marc mehrere Male um die halbe Welt, kaufte irgendwelche Papyri und Pergamente, die er niemandem zeigte, und überzog den Forschungsetat seines Instituts um ein Vielfaches, so daß die University of San Diego ihm eine Rüge erteilte und androhte, ihn hinauszuwerfen. Marc weigerte sich nämlich standhaft, Einsicht in seine neueren Forschungsergebnisse zu geben. Er schwieg; auch ich bekam nur am Rande mit, worum es eigentlich ging.«
»Und worum ging es?« Anne rutschte ungeduldig auf ihrem Stuhl hin und her.
»Sind Sie katholisch?« fragte Mrs. Vossius unvermittelt an Anne gewandt.
»Protestantisch«, erwiderte diese überrascht, und kleinlaut fügte sie hinzu: »Jedenfalls auf dem Papier.«
»Ich sollte«, fuhr Aurelia Vossius fort, »der Reihe nach berichten. Weil Marc sich weigerte, irgend etwas von seinen Forschungen bekanntzugeben, und daher mit seiner Kündigung rechnen mußte, quittierte er seinen Dienst. Wir waren nicht arm, aber für den wenig einträglichen Job eines Privatgelehrten reichten meine Einkünfte allein nicht aus. Dafür hatte Marc auf einer seiner Reisen einen komischen Kerl kennengelernt. Er nannte sich ›Thales‹ und …«
»Wie?« rief Anne in heftigster Erregung. »Thales – Ein weißhaariger Mann mit ungewöhnlich roten Backen und dem frommen Aussehen eines Ordensbruders?«
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Mrs. Vossius, »ich habe den Mann nie gesehen, aber er war so etwas wie ein Ordensbruder. Er gehörte den Orphikern an, einem obskuren Eliteorden, der angeblich nur die gescheitesten Köpfe der Welt bei sich aufnimmt, jeweils den klügsten in seinem Fachgebiet.«
»Thales!« rief Anne und schüttelte den Kopf.
»Sie kennen ihn?«
»Und ob! Er war hinter einem alten Pergament her, das er im Besitz meines Mannes glaubte. Nach Guidos Tod traf ich mit ihm in Berlin zusammen. Er inszenierte ganz merkwürdige Dinge und bot mir viel Geld für ein kleines Dokument.«
Mrs. Vossius nickte zustimmend: »Der Orphiker-Orden ist steinreich. Diese Leute verfügen über unglaubliches Kapital. Marc erzählte mir, Thales habe nur gelacht, als mein Mann finanzielle Forderungen für seine Forschungen stellte. Er habe gesagt, Marc könne über soviel Geld verfügen, wie er für notwendig halte.«
»Unglaublich«, staunte Kleiber, »aber die Sache hatte natürlich einen Haken.«
»Die Leute stellten Bedingungen. Bedingung Nummer eins: Marc mußte alle Brücken hinter sich abbrechen und dem Orden, der irgendwo im Norden Griechenlands angesiedelt ist, beitreten. Bedingung Nummer zwei: Marc sollte alle seine Forschungen in den Dienst der Orphiker-Bewegung stellen. Bedingung Nummer drei: Der einmal geschlossene Vertrag war unauflöslich, das heißt, er hatte auf Lebenszeit Gültigkeit. Die beiden ersten Bedingungen hat Marc mir gegenüber erwähnt, über die dritte Bedingung haben wir ausführlich gesprochen. Sie bereitete ihm wohl die größten Bedenken. Marc erzählte, auf seinen Einwand, er wisse nicht, wie er in zehn Jahren über sein Leben denke, habe Thales geantwortet, das müsse er sich eben vorher überlegen. Orphiker verfügten, einmal in die Gemeinschaft aufgenommen, über soviel geheimes Wissen, daß sie eine Gefahr für die Welt darstellten. Deshalb würden sie, falls sie den Orden verlassen wollten, von der Gemeinschaft gezwungen, sich umzubringen.«
»Das sind Wahnsinnige!« rief Kleiber. »Alles Wahnsinnige!«
Mrs. Vossius hob die Schultern: »Möglich. Aber vielleicht verstehen Sie jetzt, warum ich nicht an einen natürlichen Tod meines geschiedenen Mannes glaube.«
»Ich verstehe«, meinte Adrian kleinlaut und sah Anne von der Seite an. Die beiden verstanden sich: Nein, in der gegenwärtigen Situation erschien es wirklich nicht angebracht, Mrs. Vossius die ganze Wahrheit zu beichten.
Die aber erhob sich, ging zu der dem Kamin gegenüber liegenden Bücherwand und zog aus einem hölzernen Kästchen ein Papier hervor. »Marcs letzter Brief«, sagte sie und strich mit dem Handrücken über das längsgefaltete Papier. Dann gab sie, ohne eine Zeile zu lesen, den Inhalt des Briefes mit ihren eigenen Worten wieder. Vossius, sagte sie, habe sich mit dem Gedanken getragen, den Orden zu
Weitere Kostenlose Bücher