Das Fuenfte Evangelium
Genies der Welt an einem Ort zusammenbringt und sie mit unerschöpflichen Mitteln ausstattet. Wenn ich nicht Vossius' Assistent gewesen wäre, würde ich wohl ebenso denken. Es gibt sie wirklich, und sie sind mächtig – und gefährlich. Ich halte sie sogar für kriminell in ihren Machenschaften. Es ist bekannt, daß sie nicht gerade zimperlich sind bei der Durchsetzung ihrer Ziele …«
»Welcher Ziele?« unterbrach Kleiber.
»Vossius«, erwiderte Gary, »dem ich einmal dieselbe Frage stellte – das war kurz bevor er hier überstürzt alle Zelte abbrach –, antwortete folgendermaßen: Jeder Tag in Unwissenheit sei ein verlorener Tag.«
»Dagegen gibt es nichts zu sagen«, stellte Kleiber fest.
»Nein«, erwiderte Gary Brandon, »aber diese Orphiker leben in einem Wissenswahn, und der ist wie jeder Wahn gefährlich. Ich glaube, diese Leute gehen über Leichen, und ich bin ganz froh, nicht so klug zu sein wie Vossius oder Hanna. Auf diese Weise bleibe ich von derartigen Nachstellungen verschont.«
»Sie meinen, daß den beiden ihre Klugheit zum Verhängnis wurde?« Adrian machte ein amüsiertes Gesicht.
»Ja, es klingt verrückt«, entgegnete Brandon, »die Jünger des Orpheus sind ständig auf der Suche nach Genies. Ein normaler Wissenschaftler findet bei ihnen nicht das geringste Interesse.« Er lachte.
»Und hatte Vossius eine Vorstellung davon, was ihn bei den Orphikern erwartet?«
Gary Brandon hob die Schultern: »Er hat nie darüber geredet, und, ehrlich gesagt, habe ich mich damals auch nicht dafür interessiert – ich wußte ja nicht, wie das einmal enden würde. Marc hatte nur Augen für Hanna, und mit ihr wäre er auch in den afrikanischen Busch gegangen. Eine fürchterliche Geschichte.«
»Und Sie haben nie mehr von Professor Vossius gehört?«
»Nie mehr. Aurelia bekam von ihm einen Brief. Was er darin schrieb, hat sie uns nicht erzählt, und wir wollten nicht aufdringlich sein, Sie verstehen?«
»Wußten Sie, wo Vossius sich aufhielt?«
»Irgendwo in den Bergen Nordgriechenlands. Marc hat einmal den Ort erwähnt, wo das Orphiker-Kloster zu finden sei: Leibethra. Ich habe den ungewöhnlichen Namen notiert, weil er schwer zu behalten ist, dann habe ich die besten Landkarten bemüht – ohne Ergebnis. Selbst die großen Enzyklopädien kennen den Ort nicht. Fündig wurde ich schließlich in einem uralten Lexikon der Antike. Dort stand zu lesen, Leibethra sei ein Ort am Fuße des Olymp in der makedonischen Landschaft Priterien, und nach verschiedenen Überlieferungen soll an diesem Ort Orpheus geboren, gestorben oder begraben sein. Die Bewohner von Leibethra galten von altersher als sprichwörtlich dumm.«
An Kleiber gewandt, meinte Anne: »Griechenland ist nicht aus der Welt. Wenn es noch eine Chance gibt …« Dabei starrte sie immer wieder auf die Fotografie.
11
S päter, nachdem Anne und Adrian sich von den Brandons verabschiedet hatten, wobei sie versprechen mußten, ihnen alle Neuigkeiten im Fall Vossius mitzuteilen, später also, auf der Rückfahrt zu ihrem Hotel, kreisten Annes Gedanken noch immer um die Fotografie, und Kleiber fragte nach dem Grund ihrer Schweigsamkeit, und als Anne nicht antwortete, nicht antworten wollte, meinte er, wohl eher um Anne zu provozieren als aus Überzeugung: »Liz und Gary Brandon haben uns vermutlich ebenso nicht alles gesagt wie Aurelia Vossius.«
Anne widersprach heftig: »Ich glaube, die Brandons haben uns alles gesagt, was sie wissen. Sie sind persönlich an dem Fall interessiert, sonst hätten sie uns – im Gegensatz zu Mrs. Vossius – nicht gebeten, sie über neue Entwicklungen zu informieren. Ich habe das Gefühl, die Geschichte hat sie sehr mitgenommen.«
»Obwohl Brandon doch glücklich sein müßte, daß Vossius ihm ganz unerwartet seinen Platz freigemacht hat. Sie müssen wirklich gute Freunde gewesen sein.«
»Da ist nur diese Frau auf der Fotografie, Vossius' Geliebte …«
»Sie sprachen über sie mit einem gewissen Respekt, mehr mit Bewunderung als mit Zuneigung. Sollte sie wirklich von den Orphikern auf Vossius angesetzt worden sein, dann gewönne der Fall eine neue Dimension, er würde gewissermaßen zur Geheimdienstaffäre.«
Dies wollte Anne nicht gelten lassen: »Da geht dir wohl deine Phantasie durch«, meinte sie mit einem Unterton von Spott in der Stimme, um sogleich wieder ernst zu werden: »Halten wir uns an die Tatsachen.«
»Tatsachen, Tatsachen!« Adrian brauste auf, als habe Anne ihn in seinem Innersten
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