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Das Fuenfte Evangelium

Das Fuenfte Evangelium

Titel: Das Fuenfte Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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Gesicht. In den Büchern waren Passagen gekennzeichnet, andere durchgestrichen, wieder andere mit fremdartigen Schriftzeichen ergänzt, ein Labyrinth von Verbindungslinien, Kreuzen und Balken, und alles nicht nur einmal, nicht zehnmal, nein Hunderte Male in Hunderten von Büchern mit Randbemerkungen, Hinweisen, Übersetzungen und Querverbindungen. Wahllos griff Aurelia Vossius in die Bücherwände und zog immer neue Bücher hervor mit immer groteskeren Markierungen und Hinweisen.
    In einem der Bücher las Anne die unterstrichenen Zeilen: Hütet euch vor dem Sauerteig, ich meine vor der Heuchelei der Pharisäer. Nichts ist verborgen, was nicht offenbar, und nichts geheim, was nicht bekannt werden wird. Darum wird alles, was ihr im Finstern gesprochen habt, am hellen Tage vernommen werden; und was ihr ins Ohr gesagt habt in den Kammern, das wird verkündet werden auf den Dächern.
    Mit roter Tinte hatte Vossius an den Rand geschrieben:
    Lukas 12, 1-3
    Matthäus 10, 26 f.
    Markus 8, 15
    Lukas 8, 17
    Barabbas 14, 4
    Die letzte Zeile war zweifach unterstrichen.
    Barabbas! Anne von Seydlitz schauderte, sie deutete mit dem Finger auf die Stelle im Buch und reichte es Kleiber. Der sah Anne an: Barabbas, das Phantom.
    Anne mußte für die folgende Frage allen Mut zusammennehmen, schließlich konnte sie nicht absehen, wie Aurelia Vossius reagieren würde: »Mrs. Vossius, hat der Professor Ihnen erzählt, was es mit diesem ›Barabbas‹ auf sich hat?« Dabei hielt sie der Gefragten die Stelle im Buch vor das Gesicht.
    »Barabbas?« Aurelia Vossius las, dachte nach und schüttelte den Kopf: »Ich kann mich nicht erinnern, daß er den Namen je erwähnt hätte.«
    »Merkwürdig«, erwiderte Anne, die in dem Buch weiterblätterte. An einer anderen Stelle war der folgende Text gekennzeichnet: Dies ist das Zeugnis des Johannes, als die Juden von Jerusalem Priester und Leviten zu ihm sandten, um ihn zu fragen: »Wer bist du?« – Und er bekannte und verhehlte nicht, er bekannte: »Ich bin nicht der Messias!« – Da fragten sie ihn: »Was dann? Bist du Elias?« – Er sprach: »Ich bin es nicht.« – »Bist du der Prophet?« Er antwortete: »Nein.« – Da sagten sie zu ihm: »Wer bist du dann? Damit wir denen, die uns gesandt haben, Antwort bringen. Was sagst du von dir selbst?« – Er sprach: »Ich bin die Stimme eines Rufers in der Wüste: ›Bereitet den Weg des Herrn‹, wie der Prophet Isaias gesagt.«
    Auch an dieser Stelle Anmerkungen des Professors:
    Johannes 1, 19
    Matthäus 11, 14; 17 10
    Markus 9, 11
    Barabbas?? – Barabbas wieder unterstrichen.
    »Nein«, nahm Mrs. Vossius ihre Rede wieder auf, »er hat diesen Namen nie genannt. Ich höre ihn zum ersten Mal, dessen bin ich sicher. Was hat er zu bedeuten?«
    Kleiber, in die Textstelle versunken, antwortete mit einem Kopfschütteln: »Aus den Randbemerkungen könnte man schließen, daß sich die Textstellen bei den verschiedenen Evangelisten ergänzen, und das würde bedeuten, daß Barabbas Urheber dieses fünften Evangeliums ist. Die Tatsache allein erklärt jedoch nicht die Brisanz, die diesen Namen umgibt, wo immer er auftaucht.«
    »Der Name Barabbas«, ergänzte Anne, »muß irgendeine geheime Bedeutung haben, er scheint eine Art Codewort zu sein, mit dem nur Eingeweihte etwas anfangen können, gleichsam der Schlüssel zu einem Geheimnis von überragender Bedeutung.«
    Mrs. Vossius vermittelte den Eindruck, als verstünde sie von all dem nichts. War das nur gespielt, oder hatte sie in der Tat keine Ahnung, womit ihr Mann acht Jahre lang seine Zeit verbracht hatte? Jedenfalls machte sie in den Augenblicken, da Anne und Adrian sich mit den Büchern aus der Bibliothek beschäftigten, einen ungewöhnlich ruhigen Eindruck. Sie hatte sich wohl abgefunden mit dem eigenen Schicksal und dem ihres Mannes.
    Verwirrt von den zahllosen Hinweisen in den verschiedenen Büchern richtete Anne an Mrs. Vossius die Frage, ob der Professor nie über seine Forschungen gesprochen habe, ob er ihr nie das Ziel seiner Arbeit verraten habe.
    Vossius, erwiderte Aurelia, sei ein sehr verschlossener Mensch gewesen. Natürlich habe er über seine Arbeit gesprochen, doch hätten ihr solche Gespräche Schwierigkeiten bereitet, oft habe sie seine Gedankengänge einfach nicht verstanden, vor allem, wenn es um sein Fachgebiet, die Komparatistik, ging. Marc, sagte sie, habe zwei Menschen verkörpert, den liebenswerten und charmanten Durchschnittsmann, mit dem sie im Bonita-Club Golf spielte,

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