Das Fuenfte Evangelium
hätten – ein Glücksfall für die Wissenschaft. Nach Belieben habe der Professor Textstellen aus Dantes ›Göttlicher Komödie‹ und Goethes ›Faust‹ aus dem Gedächtnis zitiert und miteinander verglichen; er sei eben ein Genie gewesen. Allerdings – und dabei wurde Brandon ernst – sei dieses sein absolutes Gedächtnis auch schuld daran gewesen, daß Vossius allmählich, aber mit zunehmender Deutlichkeit den Verstand verloren habe.
Aber Vossius sei ihnen, als sie mit ihm in St. Vincent de Paul geredet hätten, völlig normal vorgekommen, gab Anne empört zu bedenken. Sie hätten zwar anfangs ebenfalls geargwöhnt, ob Vossius bei klarem Verstand sei, aber mehrere Gespräche hätten dann alle Zweifel beseitigt.
Eben, meinte Brandon, das sei typisch für sein Verhalten gewesen. Man habe mit Vossius über die kompliziertesten Probleme diskutieren können, ohne zu merken, daß derselbe Mann auf einmal Unsinn zu reden begann.
Er habe da seine Lieblingsthemen gehabt; eines sei der Absolutheitsanspruch der römischen Kirche gewesen. Anders als die Apologetik habe Vossius die Frage, ob die Überlegenheit des Christentums über alle anderen Religionen auch ohne Annahme des christlichen Glaubens, also rein wissenschaftlich oder vernunftmäßig bewiesen werden könne, verneint und ständig neue Gegenbeweise zusammengetragen – zuletzt dieses angeblich neue Evangelium.
Die Frage, welchen Inhalts dieses neue Evangelium sei, vermochte Brandon nicht zu beantworten. Keiner im Institut könne diese Frage beantworten, denn Vossius habe um sich eine Mauer der Geheimtuerei errichtet. Es könne ja sein, daß die von ihm zusammengetragenen Fragmente Teile eines unentdeckten Evangeliums seien, aber über seine wahre Bedeutung habe er beharrlich geschwiegen.
Auch gegenüber seinem Assistenten?
Auch gegenüber seinem Assistenten.
Natürlich sei das äußerst merkwürdig gewesen und habe schließlich auch zu der Trennung geführt, denn mit seinem eigentlichen Fachgebiet habe die Sache nichts mehr zu tun gehabt. Bedauerlich, er habe Vossius wirklich geschätzt.
Während Brandons Rede hatte Anne die zahlreichen Fotografien betrachtet, und an einer war ihr Blick hängengeblieben. Sie zeigte Gary und Liz mit einem weiteren Paar vor der atemberaubenden Kulisse des Monument Valley. Der zweite Mann war Vossius in übermütiger, beinahe jugendlicher Haltung, wie sie ihn nicht erlebt hatten. Die zweite Frau, eine langhaarige Schönheit, löste bei Anne den Verdacht aus, ihr schon einmal begegnet zu sein, doch wußte sie nicht wo.
Liz bemerkte Annes Blick und meinte, das sei nun auch schon fünf Jahre her. Eine tragische Geschichte.
Anne sah Liz fragend an.
»Die Geschichte mit Hanna und Aurelia!« erwiderte Liz. »Sie kennen die Geschichte nicht?«
»Nein«, sagte Anne, »welche Geschichte?«
Gary nahm seiner Frau die Antwort ab, und er sprach dabei sehr behutsam: »Marc und Aurelia führten ein paar Jahre eine sehr glückliche Ehe. Bis Hanna kam. Sie war Altphilologin und lehrte obendrein klassische Archäologie. Hanna gehörte zu den wenigen Frauen, die blitzgescheit und atemberaubend schön sind. Hanna wickelte Vossius um den Finger, und Marc war ihr hörig. Für Aurelia hingegen brach eine Welt zusammen; sie kämpfte, aber sie kämpfte auf verlorenem Posten. Sie tat uns leid. Ich glaube, sie liebt ihn noch heute.«
Brandons Aussage erklärte manches im Verhalten von Aurelia Vossius. Welche Ehefrau berichtet schon ungeniert, daß ihr Mann sie betrogen habe.
»Für uns«, fuhr Gary fort, »war die Situation nicht einfach. Wir schätzten Aurelia, aber wir mochten auch Hanna. In den letzten Jahren nahm Hanna Marc voll und ganz in Beschlag, sein Privatleben ebenso wie sein Berufsleben. Und je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr gelange ich zu der Überzeugung, daß Hanna auf Marc angesetzt worden war.«
Anne und Adrian sahen sich fragend an. »Was heißt angesetzt?« fragte Kleiber. »Das müssen Sie uns erklären.«
»Nun, es war Hanna, die Vossius mit dem sogenannten Orphiker-Orden in Verbindung brachte. Ich glaube, Hanna gehörte, schon bevor sie nach Kalifornien kam, diesem Orden an, und sie kam mit dem Ziel zu uns, Marc dafür zu gewinnen.«
»Wissen Sie Näheres über diesen mysteriösen Orden?« erkundigte sich Anne zaghaft.
»Mysteriös ist das richtige Wort für diesen Club. Die Orphiker sind unter Wissenschaftlern ein Mythos, und viele glauben, daß es sie gar nicht gibt: eine Gruppe, die die größten
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