Das Fuenfte Evangelium
päpstlichen Universität Gregoriana an der Piazza della Pilotta, einem wuchtigen Bau aus den dreißiger Jahren, vergleichbar eher einem protzigen Ministerium als einer Alma mater, war den meisten Studenten unbekannt, und selbst die Studenten des Bibelinstituts, die sich in dem Labyrinth der Gänge und Treppen durch Zufall hierher verirrten, wurden an den hohen doppelten Türen von einem Wächter am Zutritt gehindert. Wer den Saal betrat – und vom Aussehen und dem ganzen Habitus handelte es sich dabei keineswegs um Studenten –, mußte sich mit Unterschrift in ein ausliegendes Buch eintragen und ging stumm an sein Werk.
Auf den langen, schmalen Tischen lagen Faltpläne ausgebreitet wie in einem Architekturbüro, doch bei näherem Hinsehen entpuppten sich die Schriftrollen als ein einziges, riesiges Puzzle, zusammengesetzt aus Hunderten einzelner kleiner, unregelmäßiger Felder und zahlreichen Fehlstellen, durch die das blanke Holz der Tische in Erscheinung trat wie abgesprungene Farbe in einem Gemälde.
Einige Tische standen verwaist, um einen anderen scharte sich ein halbes Dutzend Jesuiten, von denen insgesamt etwa dreißig den Saal bevölkerten und in einem undurchschaubaren System ihrer Arbeit nachgingen. (Natürlich hatte die Arbeit der Jesuiten System, ein sorgfältig ausgeklügeltes sogar, beinahe mathematisch geordnet; aber man hätte schon sehr aufmerksam, vor allem aber sehr nahe, hinsehen müssen, um zu erkennen, daß die auf die Tische geklebten Papierteile auf allen Tischen gleich und obendrein Kopien eines Originals waren, insgesamt dreißig gleiche Puzzlespiele.)
Unterschiedlich wie die Charaktere der Menschen gingen die Jesuiten ans Werk: Die einen vergruben ihre Stirn in die Hände und starrten in tiefer Verzweiflung vor sich hin wie jener Sünder in Michelangelos Jüngstem Gericht; andere hatten sich mit großen Lupen bewaffnet und skizzierten, was das Vergrößerungsglas ihnen vermittelte, auf weiße Blätter, fremdartige Schriftzeichen, vielfach unvollständig; wieder andere tanzten mit teuflischem Gesichtsausdruck um ihre Texte, als handelte es sich um ein Versteckspiel mit einem unsichtbaren Gegner.
Dort, wo sich sechs um einen Tisch scharten, herrschte, im Gegensatz zu den anderen Plätzen, große Aufregung, weil, was nicht alle Tage vorkam, Dr. Stepan Losinski, ein hagerer Pole mit kleinem glattrasiertem Schädel, tiefliegenden Augen und einer knochigen Höckernase, eine Wort-, in diesem Fall sogar eine Satzfolge vortrug, die, wie er glaubte, den koptischen Schriftzeichen auf einem der Fragmente entsprach und den Umstehenden Schauder einjagte, als handelte es sich um eine unerhört gruselige Angelegenheit.
»›Nicht war er selbst das Licht‹«, las Losinski und deutete mit dem Finger auf die Textstelle vor sich auf dem Tisch, »›sondern zeugen wollte er vom Licht. Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt. In der Welt war er, und die Welt wurde durch ihn, aber die Welt erkannte ihn nicht, und das war gut so …‹«
Professor Manzoni, Profeß und einer der vier Generalassistenten des Ordens und als solcher mit der Leitung der unter strenger Geheimhaltung stehenden Arbeitsgruppe betraut, schob die Umstehenden beiseite, beugte sich über Losinskis Skizzenblatt, verglich es mit dem auf den Tisch geklebten Vorbild, bewegte, während er las, tonlos die Lippen und sagte schließlich mit seiner hohen, unangenehmen Stimme: »Das klingt verdammt nach Johannes, erstes Kapitel, acht bis elf.«
»Ist es aber nicht«, erwiderte Losinski schnippisch, »das wissen Sie genau wie ich.«
Manzoni nickte. Zwischen den beiden herrschte eine unüberbrückbare Feindschaft, obwohl der Pole ein einfacher Koadjutor und der Italiener Profeß und einer der fünf höchsten Würdenträger des Ordens, von Rang und Status also dem anderen kein ebenbürtiger Gegner war. Ihre Rivalität beruhte vielmehr auf wissenschaftlichem Gebiet. Als Bibelwissenschaftler war Losinski ein As, zumindest, was das Neue Testament betraf, und als solcher hatte er mehrfach Manzoni korrigiert, ja, ihm peinliche Fehler nachgewiesen, die einem Manne seines Ranges unwürdig und sogar geeignet schienen, den Ruf des ganzen Ordens zu ruinieren, der sich gerne als Elitetruppe christlicher Wissenschaft bezeichnet.
Die anderen schmunzelten, sie waren die Gefechte der beiden gewohnt, die sich oft ereiferten wie kämpfende Hähne und in einem Gemisch aus Italienisch und Latein bösartige Gemeinheiten an den Kopf
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