Das Fuenfte Evangelium
Worten mehr Nachdruck zu verleihen: »Bruder in Christo«, sagte er an Manzoni gewandt, »ich gestehe Ihnen ja zu, daß der Text gewisse Ähnlichkeiten mit Johannes aufweist, aber Sie müssen endlich zur Kenntnis nehmen, daß dieses Pergament fünfzig Jahre älter ist als der Urtext des Johannesevangeliums. Das Johannesevangelium stammt aus der Zeit um 100 nach Christus; Naturwissenschaftler haben unwiderlegbar ermittelt, daß diese Schrift um 50 entstanden ist. Daraus folgt: Nicht unser Autor, dessen Namen wir noch nicht einmal kennen, hat abgeschrieben, sondern Johannes.«
»Ach was!« Manzoni holte Luft. »Es gibt mehr als ein Dutzend apokrypher Evangelien und ebenso viele apokryphe Apostelgeschichten. Es gibt ein Thomasevangelium, ein Judasevangelium, ein Ägypterevangelium, die Petrusakten, Paulus- und Andreasakten, sogar einen Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus und zwischen Jesus und Abgar von Edessa. Der Sache der Kirche haben diese frommen Machwerke nicht geschadet. Ich halte die Geheimnistuerei um unsere Arbeit für übertrieben.«
Da fuchtelte Losinski wild vor Manzonis Gesicht herum, daß die anderen Jesuiten zusammenliefen, um Zeuge der höchstklerikalen Auseinandersetzung zu sein. »Das können Sie doch nicht vergleichen!« rief er zornig. »Alle von Ihnen genannten Apokryphen sind Schriften, die auf beklagenswerte Weise neutestamentliche Dokumente nachahmen. Gar nicht einmal mit dem Hintergedanken einer Fälschung, sondern einfach in frommer Absicht. Aber das Wesentliche ist, sie stammen alle – und das ist nachgewiesen – aus viel späterer Zeit.«
Da hob Manzoni wütend die Faust und schlug sie krachend auf den schmalen Tisch. »Ich weigere mich, über das Neue Testament mit naturwissenschaftlichen Methoden zu urteilen. Bibelforschung ist Sache der Philologen und Geschichtsforscher und meinetwegen auch noch der Paläographen, Kryptologen und Linguistiker. Aber Strahlenforscher sollten ihre Finger von den vier Evangelien lassen.«
»Fünf!« sagte Losinski mit jenem unverschämten Grinsen im Gesicht, das er immer in Augenblicken des Triumphes zur Schau trug und das ihn bei den übrigen Jesuiten unbeliebt machte.
»Wie bitte?«
»Ich sagte fünf, Bruder in Christo. Jedenfalls können wir die Möglichkeit nicht mehr ausschließen, daß sich fünf Evangelisten mit Lehre und Leben unseres Herrn Jesus beschäftigt haben.«
Losinskis Aussage löste Unruhe unter den Mönchen aus. Eine seltsame Unruhe, seltsam deshalb, weil jeder einzelne seit der Übernahme seiner Aufgabe wußte, woran er arbeitete. Die meisten waren jedoch mit dem Gedanken angetreten, daß nicht sein könne, was nicht sein darf, und Losinskis klare Worte versetzten die Mönche in Schrecken wie sündige Gedanken. Aber wie Lust und Qual sündigen Gedanken stets auf dem Fuße folgen, plagte die Jesuiten der Gregoriana eine wachsende Neugierde nach der Wahrheit.
Kessler, einer der Jüngsten der Gruppe, gehörte zur Partei Losinskis, die die Sache ohne Rücksicht auf das Ergebnis antrieb. Er nahm den Faden auf und meinte: »Sollte sich unsere Annahme bestätigen, daß es fünf Evangelien gibt, dann wäre der Urheber unseres Textes allerdings nicht der fünfte Evangelist, sondern der erste; dann müßte Markus dem, dessen Namen wir nicht kennen, Platz machen.«
»Kein Beweis!« tat Manzoni den Hinweis ab.
»Nein, kein Beweis«, erwiderte der junge Kessler, »aber es gibt da eine nicht uninteressante Beobachtung.«
»Wir hören.«
»Was den vier bekannten Evangelien fehlt, sind biographische Angaben über das Leben unseres Herrn Jesus. In allen vier Evangelien sucht man auch vergeblich nach irgendeiner Angabe über das Aussehen unseres Herrn. Nichts! Warum? Wir sind uns mit der Lehrmeinung der Kirche einig, daß keiner der vier Evangelisten unseren Herrn Jesus gekannt und nur die mündliche Überlieferung aufgezeichnet hat. Historisches Interesse lag ihnen fern. Sie versuchten Glaubenshilfe zu geben. Markus mit dem Vorhaben, die Römer mit anschaulichen Worten für seinen Glauben zu gewinnen. Matthäus in der Absicht, die jüdisch denkenden Zeitgenossen zu überzeugen, daß sich in Jesus die menschliche Erwartung des Alten Bundes erfüllt habe. Lukas, der Intellektuelle unter ihnen, gebrauchte das Markusevangelium als Quelle, wandte sich aber an die gebildeten Schichten und widmete sich auch philosophischen Fragen wie der Problematik des Heiligen Geistes. Johannes hingegen tanzte aus der Reihe, ja man kann sagen, er setzte die
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