Das Fuenfte Evangelium
daß sich unter dem frommen Deckmantel Societatis Jesu Komplizenschaften entwickelt hatten, wie sie eher einem dubiosen Kartell zukamen als einer christlichen Ordensgemeinschaft.
»Ich weiß nicht, ob Sie meine Ansicht teilen, junger Freund«, fuhr Losinski fort, »aber ich halte es mit dem ›Doctor mirabilis‹ Roger Bacon, der die Berufung auf kirchliche Autorität ablehnte, die ohne einsichtige Gründe Anspruch auf Glauben erhebt, und genauso die philosophisch-dialektische Methodik, weil sie nicht gestatte, die Dinge selbst zu erfassen. Bacon vertrat die Ansicht, nicht jede Erkenntnis einer wissenschaftlichen Forschung müsse zwangsläufig bekanntgemacht werden; denn in falschen Hirnen sei sie geeignet, mehr Schaden als Nutzen anzurichten.«
Kessler lachte: »Darüber läßt sich trefflich streiten, obwohl seine Gedanken 700 Jahre alt sind!«
»Das macht sie nicht schlechter. Aristoteles lebte vor 2.300 Jahren, aber sein Gottesbeweis bringt noch heute die Philosophen, die für gewöhnlich an allem herummäkeln und zweifeln, mitunter in arge Bedrängnis. Oder sind Sie da anderer Ansicht, Bruder in Christo?«
»Ich bin Koptologe und Paläograph. Die Schriften des Aristoteles habe ich nie eingehend studiert.«
»Ein Fehler. Aristoteles weist selbst die größten Zweifler in ihre Schranken. Wissen Sie, er geht, um Gott zu beweisen, aus von der Zeit. Die Zeit ist ewig. Aber die Zeit ist auch eine Bewegung, nach vorne die Zukunft, rückwärts die Vergangenheit. Doch alles, was in Bewegung ist, bedarf einer Ursache. Man kann nun für die Ursache der ewigen Bewegung wieder eine andere annehmen, und für diese wieder, und immer so weiter. Da das aber nicht ins Unendliche weitergehen kann, muß es ein Primum movens , ein erstes Bewegendes geben, welcher selbst unbewegt ist. Das ist Gott.«
»Das ist ein guter Gedanke!« rief Kessler aus, und ein kinnbärtiger Jesuit, der sich in seiner Arbeit gestört fühlte, blickte auf und mahnte zur Ruhe. »Das ist ein guter Gedanke«, wiederholte Kessler im Flüsterton, »aber wir sind vom Thema abgeschweift. Glauben Sie, daß es besser sei, unsere Forschungsergebnisse geheimzuhalten, habe ich Sie da richtig verstanden?«
Losinski hob die Schultern, was dem hageren Mann ein geierhaftes Aussehen verlieh, und sagte: »Das liegt weder in Ihrer noch in meiner Entscheidung. Ich glaube nicht einmal, daß er dabei mitzureden hat«, und dabei machte er eine Kopfbewegung zu Manzoni hin, die eine gewisse Verachtung erkennen ließ. »Jedenfalls«, fügte er schließlich hinzu, »sollten Sie sich mit der Bekanntgabe Ihrer Forschungen etwas zurückhalten. Was Sie im Kopf behalten, kann Ihnen niemand stehlen, Bruder in Christo.«
Nach diesen Worten wandten sich beide wieder ihrer Arbeit zu, Losinski am Fuße des ersten Fensters im Saal, Kessler am anderen Ende der Tischreihe vor der haushohen Bücherwand.
Die Unterredung mit dem polnischen Mitbruder hatte Kessler verwirrt. Er vermochte sich keinen Reim darauf zu machen, was dieser überhaupt sagen wollte, aber es schien da irgendeine geheime Absprache zu geben, deren Inhalt er, Kessler, nicht kannte.
Noch am Abend desselben Tages, der im übrigen ohne neue Erkenntnisse verlief, nahm Manzoni Kessler beiseite und erklärte ihm mit ernster Stimme, er solle vor Losinski auf der Hut sein. Losinski sei zwar ein hervorragender Wissenschaftler und obendrein von überragender Allgemeinbildung, die selbst vor unorthodoxen Disziplinen eines Klerikers wie Jazzmusik und Esoterik nicht haltmache, aber im Grunde seines Herzens sei Losinski ein Ketzer, und er, Manzoni, könne sich vorstellen, daß er unseren Herrn Jesus für dreißig Silberlinge verrate wie Judas Ischariot.
Manzonis Aussage hinterließ bei Kessler einen zwiespältigen Eindruck, und er antwortete kühl, nicht einmal einem Profeß stehe es zu, über einen Mitbruder zu richten, vor allem, wo sich dieser bisher keiner Untat schuldig gemacht habe. Und selbst Petrus, der unseren Herrn dreimal verleugnete, ehe der Hahn krähte, habe dafür Vergebung erlangt.
Er möge, konterte Manzoni, seine Worte nicht auf die Goldwaage legen. Natürlich sei er weit davon entfernt, den hochwürdigen Mitbruder Stepan Losinski eines Frevels wider den Glauben zu bezichtigen, aber daß er mit der Heiligen Mutter Kirche in gespannter Zwietracht lebe, sei ein offenes Geheimnis. Er, Manzoni, würde es daher vorziehen, wenn er, Kessler, sich an die glaubensfesten Mitbrüder Dr. Lucino und den Franzosen Bigou halte,
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