Das Fuenfte Evangelium
die ihm für jedes Gespräch offenstünden.
Das versprach Kessler – was hätte er auch anderes tun sollen –, aber auf dem Nachhauseweg in das Kloster der Jesuiten auf dem Aventin, in dem er seit Übernahme seiner Aufgabe in der Gregoriana Wohnung genommen hatte (andere Jesuiten, die dem Klosterleben entwöhnt waren, logierten in Pensionen der Stadt), wurde er den Gedanken nicht los, daß er in ein feines Gespinst unerklärlicher Zusammenhänge verwickelt war, die geeignet schienen, die Eintracht der Mönche zu stören. Was heißt Eintracht! Seit Wochen hatte Kessler das ungute Gefühl, daß zwischen seinen Mitbrüdern eine unsichtbare Mauer emporwuchs und sie in zwei Parteien trennte, wobei er selbst nicht ausmachen konnte, welcher Seite er angehörte.
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D as Verhalten der Jesuiten fernab jeder Gottesfurcht und Frömmigkeit versetzte Kessler in Zorn, und er ertappte sich dabei, daß er in den folgenden Tagen seine Aufmerksamkeit mehr auf das Verhalten seiner Mitbrüder als auf die wissenschaftliche Arbeit lenkte. Losinski lebte wie er im Kloster San Ignazio auf dem Aventin, sie bewohnten sogar Zimmer auf demselben Gang, aber er hatte dem Polen bisher keine Aufmerksamkeit geschenkt. Jesuiten sind Regularkleriker, das heißt, sie unterscheiden sich von anderen Orden durch den Verzicht auf eigene Tracht, sie tragen statt dessen die jeweilige Tracht der weltlichen Geistlichen. Sie kennen auch keinen Chordienst, und ihr Leben ist weniger mönchisch als weltlich geprägt.
So beobachtete Kessler, als er seine Aufmerksamkeit Losinski zuwandte, daß dieser an manchen Abenden das Kloster verließ und erst nach Mitternacht zurückkehrte, was in der illustren Lebensgemeinschaft nicht weiter auffiel, es sei denn aufgrund seiner Regelmäßigkeit. Kessler schwankte, ob er Losinski deshalb ansprechen oder ob er ihm eines Abends einfach folgen sollte. Er entschied sich dafür, sich an seine Fersen zu heften wie ein Jünger dem Herrn.
Schon am folgenden Abend verließ Losinski gegen 20 Uhr sein Zimmer, gab, wie üblich, den Schlüssel an der Pforte ab, ging schnellen Schrittes die Via di Santa Sabina zur Piazzale Romulo e Remo hinab, wo er ein Taxi bestieg. Kessler folgte in einem zweiten. Die Fahrt ging ein Stück am Tiber entlang bis zur Piazza Campo dei Fiori, wo Losinski das Taxi verließ und in eine kleine, dunkle Seitenstraße einbog, die zum Corso Vittorio Emanuele führt. Dort verschwand er im Eingang eines hohen sechsstöckigen Hauses.
Kessler hatte nicht den Mut, Losinski unmittelbar in das Haus zu folgen. Deshalb ließ er, auf der gegenüberliegenden Straßenseite wartend, einige Zeit verstreichen. Die ersten beiden Stockwerke lagen im Dunkeln, die dritte, vierte, fünfte und sechste Etage waren erleuchtet. Schließlich wagte er sich über die Straße.
Römische Hausportale sind ein Kapitel für sich; sie vermitteln den Eindruck von Pomp und Wohlstand, selbst wenn sich dahinter nur ein heruntergekommenes Mietshaus versteckt. Das traf auch auf diesen Eingang zu. Vier hochglanzpolierte Messingschilder verwiesen auf einen Rechtsanwalt, zwei Ärzte und eine Werbeagentur namens ›Presto‹. Das altmodische Klingelbrett umfaßte, soweit es die matte Beleuchtung erkennen ließ, acht Namen ohne Aussagewert. Die Tür war verschlossen, und Kessler kehrte in sein Kloster zurück und überlegte.
Gepackt von jener sündhaften Neugierde, die zum unstillbaren Verlangen werden kann wie die Sucht nach einer Frau, entschloß sich Kessler, das Wirken Losinskis auf akribische Weise zu ergründen. Kaum hatte der Mitbruder zwei Tage später seine Zelle verlassen und die Richtung zur Piazzale Romulo e Remo genommen, da ging Kessler zur Pforte, nahm Losinskis Zimmerschlüssel vom Haken, hängte den seinen an dessen Stelle und schaffte sich so Zutritt zu dem Zimmer des Mitbruders.
Der Raum unterschied sich nicht wesentlich von seiner eigenen Zelle: ein dreitüriger Schrank aus der Zeit Pius X. schwarz, würdevoll und wuchtig gezimmert und geeignet, den Codex Iuris Canonici aufzunehmen; ein noch älterer Sekretär mit symmetrischen Türen auf beiden Seiten, geziert von je einem Strahlenherz und in einem Zustand, als hätte er die Kölner Wirren unter Papst Gregor XVI. nicht unbeschadet überstanden (der zugedachte Stuhl mit hoher und mit senkrechten Sprossen versehener Lehne paßte sich dem Studiermöbel wenn nicht in seiner Form, so zumindest in seiner Scheußlichkeit an); und ein quadratischer, hölzerner Waschtisch mit versenkter
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