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Das Fuenfte Evangelium

Das Fuenfte Evangelium

Titel: Das Fuenfte Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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Kenntnis der drei synoptischen Evangelien voraus, als er an sein Werk ging und sich die Selbstoffenbarung unseres Herrn Jesus zum Hauptthema nahm. Aber keiner der vier geht auf seinen Charakter und seine Person ein.«
    »Bei Gott, Bruder in Christo«, warf Manzoni mit seiner bedächtigen Stimme ein, »das ist keine Neuigkeit, die Sie da berichten. Ich zweifle auch, ob es von Wichtigkeit ist zu wissen, wie unser Herr Jesus aussah. Ob er 180 Zentimeter groß, 75 Kilogramm schwer und wie die meisten seiner Zeitgenossen von dunkler, langer Haarpracht war.«
    »Gewiß nicht«, antwortete der junge Kessler, und seine Augen hinter der randlosen Brille blitzten listig, »aber wenn wir davon Kenntnis hätten, müßten auch Sie, Bruder in Christo, eingestehen, daß die Quelle, der diese Information zu entnehmen wäre, sich von allen anderen dadurch unterschiede, daß der Urheber Jesus gekannt hat.«
    Es war auf einmal still geworden im Saal. Sogar jene, die bisher in ihre Textfragmente vertieft waren, hielten inne und blickten auf. Kessler hielt ein kleines Pergamentpapier in der Hand, etwa zwanzig mal zwanzig Zentimeter, eine Pause, wie sie von allen Jesuiten gebraucht wurde, indem sie das durchscheinende Blatt über die Vorlage legten und mit Bleistift abzeichneten. Diese Technik bot die Möglichkeit, Fehlstellen auf dem Blatt zu ergänzen ohne das Original zu beschädigen.
    »Ich trage das Ergebnis seit gestern bei mir«, sage Kessler, »ich habe noch einmal darüber geschlafen …«
    »Nun machen Sie es doch nicht so spannend, Kessler!« Manzoni war ungehalten, er schnaubte wie ein unwilliges Roß. »Lassen Sie uns teilhaben an Ihren Erkenntnissen!«
    Es hatte sich eingebürgert unter den Jesuiten, daß derjenige, der ein Fragment übersetzt oder ergänzt hatte, seine Arbeit vortrug, die dann gemeinsam auf ihren Inhalt und ihre Wahrscheinlichkeit diskutiert wurde. Kessler, der den fragwürdigen Vorzug genoß, den Anfang der Pergamentrolle – oder das, was man aufgrund verschiedener Anzeichen für den Anfang halten konnte – zu bearbeiten, Kessler hatte bisher noch nie über seine Arbeit referiert. Der Grund lag darin, daß der Anfang jeder Pergamentrolle die größten Beschädigungen aufweist, Einrisse, Ausfransungen, fehlende Ecken und Teile, so daß sich gerade diese Arbeit am schwierigsten gestaltet.
    »Ich will vorausschicken«, begann Kessler, »daß ich meine Ergänzung und Übersetzung bereits mit unserem Bruder Stepan Losinski besprochen habe und daß er mit meiner Übersetzung konform geht. Demnach beginnt das Pergament mit drei Zeilen, die uns fehlen und die vermutlich auch nicht mehr zu finden sein werden, weil es sich um mechanische Beschädigungen handelt. Der Überlauf der vierten Zeile setzt ein mit den Worten: ›… Vater. Jesus, der von sich sagte, daß er von Gott gekommen als Lehrer, um uns ein Zeichen zu geben … Messias gesandt … so war ich sein Zeuge … wie der Vater liebt den Sohn … und verehrten die Menschen seine Gestalt, welche vier Ellen bis zum Scheitel, und sein wallendes Haupthaar von Farbe wie Ebenholz, während ich klein blieb von Wuchs wie die meisten Männer in Galiläa. Um seiner sanften Stimme zu lauschen kamen die Menschen von weither …‹«
    Zuerst schwiegen die Patres, und es schien, als ließe ein jeder für sich den Text noch einmal vor sich ablaufen. Manzoni reagierte als erster: »Mein Gott«, sagte er und stellte die Frage: »Wieviel von dem Text ist gesichert, wieviel ist ergänzt oder aus anderen Gründen fragwürdig?«
    »Zwanzig Prozent ist ergänzt«, erwiderte Dr. Kessler, »der fünfte Teil.«
    »Und die Beschreibung unseres Herrn Jesus?«
    »Kann als gesichert gelten. Sie ist der am besten erhaltene Teil, wie überhaupt der Text zum Ende hin besser ist als am Anfang.« Kessler händigte Manzoni seine Pergamentpause aus.
    Manzoni verschlang die Aufzeichnung mit den Augen. Seine heftigen Bewegungen, die dem Profeß für gewöhnlich so fremd waren wie der Zweifel an einem Dogma der Heiligen Mutter Kirche, verrieten die innere Anspannung, die ihn gefangennahm. Während er mit Zeige- und Mittelfinger seiner Rechten jedes einzelne Wort bedeutete, bewegten sich seine Lippen. Schließlich gab er Kessler das Blatt zurück, blickte durch das hohe Fenster nach draußen und sagte, ohne seinen Blick abzuwenden: »Wenn sich Ihre Traduierung als richtig erweist, hätten Sie recht, Bruder in Christo. Dann müßte der Urheber dieses Textes in der Tat mit unserm Herrn

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