Das Fuenfte Evangelium
in dem Beichtstuhl sicher, daß Losinski in undurchsichtige, schmutzige Geschäfte verwickelt sein mußte.
Ob es sich dabei um das Geheimprojekt der Gregoriana handelte oder um eine ganz andere Angelegenheit, wagte Kessler nicht zu entscheiden; er wagte auch nicht, Losinski zur Rede zu stellen, weil dieser gewiß alles abgestritten hätte und ihm fortan mit soviel Mißtrauen begegnet wäre, daß Kessler die Hintergründe nie mehr hätte durchleuchten können. Aber das wollte er.
Je länger er darüber nachdachte, desto mehr wuchs bei Kessler die Überzeugung, daß unter allen Mitbrüdern Societatis Jesu das Mißtrauen zu Hause war, und der Gedanke, er könnte in seiner Ahnungslosigkeit mißbraucht worden sein, kränkte ihn heftig. So heftig, daß er beschloß, der Sache auf den Grund zu gehen.
Siebentes Kapitel
U NVERHOFFTE B EGEGNUNG Einsamkeit
1
S eit jener unheimlichen Erscheinung mied Anne von Seydlitz ihr eigenes Haus. Sie hatte sich fest vorgenommen, bis zur Klärung der Angelegenheit keine Nacht mehr in diesem Haus zu verbringen. Für die zwei Tage, die sie sich in München aufhielt und die sie in der Hauptsache damit verbrachte, ihre Wäsche zu wechseln und geschäftliche Dinge zu regeln, nahm sie ein Zimmer in dem Hotel, in dem auch Kleiber gewohnt hatte.
Die Sache mit Adrian tat ihr leid, aber in gewisser Weise war sie auch froh, daß es so gekommen war, denn sie hatte den Eindruck, daß Kleiber sich viel mehr für sie als für ihre Probleme interessierte. Und wenn sie in dieser Situation etwas nicht brauchte, dann waren das die Nachstellungen eines Mannes. Gewiß, sie würde ihm, falls er käme, die Hand reichen, und dabei kamen ihr die Worte ihrer Pflegemutter in den Sinn, die mit strenger Stimme gelehrt hatte, man dürfe nie eine dargereichte Hand zurückweisen, nicht einmal die eines Feindes, aber vorerst konnte sie sicher sein, daß es zu dieser Begegnung nicht kommen würde. Für den Augenblick drängten sich in Annes Kopf so viele Gedanken, daß einfach kein Platz blieb für einen Mann.
Es ist der Stolz, der eine betrogene Frau zu unvorstellbaren Leistungen anspornt. Unvorstellbar wäre es früher für Anne von Seydlitz gewesen, allein auf sich gestellt eine Spur aufzunehmen, die sie um die halbe Welt führte, verbunden mit Risiken und Gefahren, nur um Klarheit in eine Affäre zu bringen, die ihr – so sie diese überhaupt jemals aufzuklären vermochte – nicht den geringsten Vorteil einbrachte. Aber zwischen ihr und dem Unbekannten, dem Geheimnisvollen und Mysteriösen hatte sich eine, wie es schien, magische Bindung entwickelt; jedenfalls fühlte sich Anne außerstande, davon abzulassen.
War dies die oft beschriebene Magie des Bösen, die sie gefangenhielt, die sich all ihrer Gedanken bemächtigte und sie nicht mehr losließ? Warum tat sie das alles?
Gedanken wie diese nahmen in ihrem Leben jedoch nur unbedeutenden Raum ein. In der gegenwärtigen Situation war das auch gut so; denn sonst hätte Anne von Seydlitz bemerkt, wie sehr sie sich bereits verändert hatte.
Noch nie in ihrem Leben war sie von einer Idee besessen gewesen, und sie hatte Leute, die selbstverachtend ein Ziel verfolgten, eher mit Unbehagen betrachtet als mit Bewunderung. Nun, besessen von einer Idee, kannte sie sich selbst nicht mehr, stellte sie alles hintan, Liebe, Leben, Geschäft, aber sie merkte es nicht. Es gibt Dinge, denen man nicht entfliehen kann.
Die Nachforschungen in Kalifornien hatten Anne in ihrer Überzeugung bestärkt, daß ihr Mann Guido in ein weltweites Komplott verstrickt gewesen sein mußte – mit oder ohne sein Wissen, das vermochte sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zu sagen. Die Entdeckung eines neuen biblischen Textes allein konnte es wohl nicht sein, was Wissenschaftler zu Jägern werden ließ und andere zu Gejagten.
Mrs. Vossius, die Frau des Professors, nahm in ihren Überlegungen eine zwielichtige Rolle ein. Anne zweifelte an ihrer Ehrlichkeit, ja, nach einigen Tagen Abstand stellte sie sich sogar die Frage, ob Aurelia Vossius nicht ein falsches Spiel spielte. Die wichtigste Fährte war zweifellos Brandons Hinweis auf den Orphiker-Orden, irgendwo im Norden Griechenlands. Anne hatte keine Ahnung, was sie dort erwarten könnte, ob sie überhaupt Zugang finden würde zu dem mysteriösen Orden, aber ihr Entschluß stand fest.
Sie mußte nach Leibethra.
2
D ank der präzisen Beschreibung Gary Brandons flog Anne von Seydlitz nach Athen, weiter nach Thessaloniki, das dort Saloniki
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