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Das Fuenfte Evangelium

Das Fuenfte Evangelium

Titel: Das Fuenfte Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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so bei Georgios ehrliches Mitgefühl. Georgios hörte sich ihre Erzählung an, dann trank er ein Glas verwässerten Rakis auf einen Zug aus, sperrte die Ladentür ab, kam zurück und setzte sich wieder an den quadratischen Tisch. Mit den Fingern trommelte er auf der Tischplatte; Spiliados tat das immer, wenn er angestrengt nachdachte.
    Blasses Licht von einer nackten Glühbirne an der gekalkten Decke füllte den Raum. Annes Augen wanderten abwechselnd vom Gesicht zu den nervösen Händen und wieder zurück zum Gesicht ihres Gegenübers. Georgios blickte vor sich hin, er schwieg, und je länger er stumm blieb, desto mehr sank Annes Hoffnung, er würde ihr helfen.
    »Unglaubliche Geschichte ist das«, sagte er endlich, »unglaubliche Geschichte, wirklich.«
    »Glauben Sie mir etwa nicht?«
    »Doch, doch«, meinte Georgios beschwichtigend. »Mir scheint, diese Leute sind wirklich gefährlich. Wir alle hier wissen kaum etwas über sie. Was man sich im Ort über sie erzählt, sind mehr oder weniger Gerüchte. Einer berichtet es dem anderen hinter vorgehaltener Hand. Alexia, die Frau des Schmieds, will gesehen haben, daß sie Menschen auf Scheiterhaufen verbrennen und dazu tanzen. Und Sostis, dem der Steinbruch am Osthang gehört, sagt, es seien Verrückte, die sich gegenseitig umbrächten. Daß es Neunmalgescheite sein sollen, höre ich zum ersten Mal. Ich kann mir das einfach nicht vorstellen. Wie, sagten Sie, nennen sie sich?«
    »Orphiker, Jünger des Orpheus.«
    »Verrückt. Wirklich verrückt.«
    »Ich glaube«, erklärte Anne dem Griechen, »sie setzen derartige Gerüchte ganz bewußt in die Welt, um von ihrem eigentlichen Tun abzulenken.«
    »Offiziell«, berichtete Georgios, »ist Leibethra ein Pflegeheim für geistig Behinderte; aber was wirklich hinter dem Zaun vor sich geht, der den Zugang zu dem Tal versperrt, weiß niemand. Sie versorgen sich selbst wie die Mönche am Berg Athos, sie haben ihre eigenen Fahrzeuge, mit denen sie in Saloniki ihre Großeinkäufe erledigen, und der Postmeister von Katerini sagt, sie würden sogar ihre Post nur mit dem Hauptpostamt in Saloniki abwickeln.«
    »Und sie verfügen über ein unvorstellbares Vermögen«, fügte Anne hinzu.
    Georgios schüttelte ungläubig den Kopf.
    »Und wie soll ich Ihnen behilflich sein?« fragte der Grieche schließlich.
    »Ich möchte, daß Sie mich nach Leibethra bringen!« sagte Anne von Seydlitz mit entschlossener Stimme.
    Georgios fuhr sich mit den Fingern durch die krausen Haare.
    »Sie sind verrückt«, sagte er aufgeregt. »Das mache ich nicht.«
    »Ich bezahle Sie gut!« wandte Anne ein. »Sagen wir – zweihundert Dollar.«
    »Zweihundert Dollar? Sie sind wirklich verrückt!«
    »Hundert sofort, und hundert an Ort und Stelle.«
    Die kühle Beharrlichkeit, mit der Anne von Seydlitz verhandelte, brachte Georgios aus der Fassung. Er sprang auf und ging unruhig in dem kahlen Raum auf und ab, Anne beobachtete ihn genau. Zweihundert Dollar waren eine Menge Geld für einen Bäcker in Katerini. Heilige Mutter, zweihundert Dollar!
    Anne zog eine Hundert-Dollar-Note aus der Tasche und breitete sie in der Mitte des Tisches aus. Da verschwand Georgios wortlos durch die Tür nach hinten. Anne hörte seine Schritte auf der ächzenden Holztreppe nach oben. Sie wunderte sich selbst über ihren Mut, aber sie war jetzt zu allem entschlossen. Wenn es eine Chance gab, Licht in das Dunkel dieser Affäre zu bringen, dann mußte sie nach Leibethra.
    Genaugenommen wußte sie überhaupt nicht, was sie dort erwarten würde. Aber wie ein geheimnisvoller Zwang Mörder und Opfer zusammenführt, so spürte Anne den Drang, das Felsenkloster an den Hängen des Olymp zu erkunden, als lägen dort alle Geheimnisse verborgen. Den Kopf in beide Hände gestützt, den Blick auf die Dollarnote gerichtet, wartete Anne auf Georgios' Rückkehr.
    Dieser kam mit einer alten, aufgefalteten Landkarte. Er sagte kein Wort, nahm den Geldschein und legte an seine Stelle die Faltkarte. »Da«, knurrte er und pochte mit dem Mittelfinger seiner Rechten auf einen bestimmten Punkt auf der Karte: »Leibethra.«
    Der Ort war mit einem Symbol markiert, ein Kreis, darüber ein Kreuz. Das wies auf ein Kloster hin. Die Ortsbezeichnung fehlte. Stumm fuhr er mit dem Finger die Straße von Katerini nach Elasson entlang, zeigte auf eine dünne, verschlungene Linie, die wohl einen unbefestigten Saumpfad markierte und sich irgendwo an den Hängen des Olymp verlor, und deutete mit ein paar fahrigen

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