Das Fuenfte Evangelium
genannt wird, der Kürze wegen, und quartierte sich im Makedonia Palace, Leoforos Megalou Alexandrou, ein, in der malerischen Altstadt.
Guido, von Berufs wegen als Reisender erfahren, hatte ihr einmal den Tip gegeben: Wenn du in einer Stadt keine Freunde hast, dann gebe dem Hotelportier ein fürstliches Trinkgeld.
Der junge Mann an der Rezeption hieß Nikolaos wie jeder Zweite in der Gegend, sprach blendend englisch, und der große Schein, den Anne ihm zuschob, setzte bei ihm ungeahnte Fähigkeiten frei. Anne traf sich mit ihm nach Dienstschluß in einem Straßencafé nahe dem Weißen Turm, von wo man das Meer sieht, und sie begann ohne Umschweife zu erzählen, daß ihr verstorbener Mann in ein sonderbares Komplott verwickelt sei, dessen Hintermänner möglicherweise in Leibethra zu suchen seien. Nähere Angaben machte Anne nicht.
Nikolaos, nicht älter als fünfundzwanzig, mit schwarzem Kraushaar und flinken, dunklen Augen, fühlte sich von der Offenheit und dem Vertrauen der Fremden geschmeichelt und versprach, ihr behilflich zu sein. Zunächst, meinte er ehrlich, müsse er jedoch eingestehen, daß er von dem Orden in Leibethra zwar gehört habe, aber niemand in Saloniki wisse Näheres über diese Leute. Die meisten, so auch er, glaubten vom Hörensagen, es handle sich um einen frommen Orden, der in Leibethra eine Irrenanstalt betreibe. Allerdings handele es sich bei den Behinderten keineswegs um Griechen oder Leute aus der Gegend, sondern um Ausländer, die dorthin gebracht würden.
Vermutlich, erklärte Anne, werde die Anstalt nur zur Tarnung unterhalten, in Wirklichkeit verberge sich hinter Leibethra etwas ganz anderes.
Es traf sich, daß Nikolaos' Schwager Vasileos in Katerini, eine Autostunde südlich von Saloniki, ein Hotel betrieb mit Namen ›Alkyone‹, und Nikolaos glaubte sich zu erinnern, sein Schwager habe ihm schon einmal von dem unheimlichen Felsenkloster an den Hängen des Olymp berichtet, aber weil er sich nicht sonderlich dafür interessiert habe, könne er sich an Einzelheiten nicht erinnern.
Am folgenden Tag brachte Nikolaos Anna von Seydlitz mit seinem Wagen nach Katerini zu Schwager Vasileos, der, obwohl Anne in seinem Hotel und nicht im benachbarten ›Olympion‹ abstieg und obwohl sie von Nikolaos mit freundlichen Worten empfohlen wurde, der Fremden mit großem Mißtrauen begegnete. Überhaupt erwies sich Vasileos als das genaue Gegenteil von Nikolaos: träge und finster dreinblickend und verschlossen, vor allem seinen Gästen gegenüber. Hinzu kam, daß man sich mit ihm nur mit Hilfe eines Kauderwelsch aus seltsamerweise rheinisch gefärbtem Deutsch und mühsam angelerntem Englisch mit trockenem nordgriechischem Akzent verständlich machen konnte.
Die meisten Leute in der Gegend seien hier so, entschuldigte Nikolaos sein mürrisches Verhalten, und er unterhielt sich mit Vasileos in lautem und ernstem Tonfall. Zwar verstand Anne kein Wort, aber den Gesten und Reaktionen der beiden konnte sie entnehmen, daß Nikolaos seinem Schwager Vorhaltungen machte, er solle seine Gäste gefälligst besser behandeln und die Kiria aus Deutschland sei sehr großzügig. Dann steckte er Anne seine Telefonnummer in Saloniki zu, für den Fall, daß sie seine Hilfe brauchte, und reiste ab.
Katerini ist äußerst malerisch, sogar an trüben, kalten Tagen, ein Landstädtchen, abseits der einzigen Autobahn des Landes. Nach Katerini reist man nicht, man kommt zufällig vorbei. Auch in Vasileos' Hotel – es nannte sich zwar so, verdiente aber eher den Namen Herberge – blieb selten einer länger als eine Nacht. Insofern war Anne von Seydlitz eine Besonderheit, und am zweiten Tag, nachdem sie die Gassen des Städtchens und den malerischen Marktplatz erkundet hatte und noch immer nicht abgereist war, begannen die alten Männer, die auf geflochtenen Stühlen vor den Haustüren saßen, zu tuscheln, wer die Fremde wohl sei und was sie hier zu suchen habe. Es war merkwürdig, aber in dem fremden Land, unter fremden Menschen fühlte Anne von Seydlitz sich sicherer als zu Hause, wo sie sich überwacht und beobachtet glaubte.
Ziemlich viele Männer, und nicht nur alte, hockten vor den Türen ihrer Häuser, Männer mit kantigen Gesichtern und buschigen Brauen, ausgemergelt und hart vom Widerstand gegen das Leben, das hier kein Honiglecken ist. Einer lebt vom anderen, der Krämer vom Maurer, der Maurer vom Baumeister, der Baumeister vom Sägewerksbesitzer, der Sägewerksbesitzer vom Krämer – nicht wie die im
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