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Das Fuenfte Evangelium

Das Fuenfte Evangelium

Titel: Das Fuenfte Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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ob der Wachposten besetzt ist«, meinte Anne leise, aber noch während sie redete, wurde die Tür des Holzhauses geöffnet und heraus trat ein Mann. Er ging gelangweilt ein paar Schritte auf und ab. Dabei konnte man sehen, daß er ein Gewehr umhängen hatte. Schließlich verschwand er wieder in seinem Holzhaus.
    Behutsam schlichen Anne und Georgios näher an die Wachstation heran. Sie glich genau jenem Holzhaus, das sie weiter abwärts inspiziert hatten. Eine lange Weile blickten sie auf die Sperre; dann sagte Georgios: »Ich glaube, wir haben beide dieselbe Lösung im Auge.«
    »Ja, die einzige Möglichkeit, da unbemerkt vorbeizukommen, ist der Bach.«
    »Und der ist verdammt kalt.«
    »Ja«, sagte Anne. Aber während Georgios zweifelte, ob die Kiria das Risiko und die Strapaze auf sich nehmen würde, hatte Anne sich längst entschieden. »Danke, Georgios«, sagte sie und schüttelte dem Griechen die Hand. Dann reichte sie dem Griechen das Geld und begann Schuhe und Strümpfe auszuziehen. Während sie ihre Hosen hochkrempelte, sagte sie ruhig: »Sollten Sie innerhalb einer Woche nichts von mir hören, dann benachrichtigen Sie die Polizei.«
    »Ich befürchte nur, das wird nichts nützen. Hierher hat sich, seit die Erde besteht, noch keine Polizeiuniform verirrt.«
    Anne machte eine beschwichtigende Handbewegung: schon gut, und ging los.
6
    W enige Meter vor der Hütte, wo der Lichtschein einen hellen Kreis über den Weg warf, stieg sie in den Bach und watete, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, durch das eiskalte Wasser. Sie hielt ihre Tasche und Schuhe vor die Brust gepreßt. Zum Glück reichte das Wasser nur bis zu den Knien. So gelangte Anne leichter, als sie es erwartet hatte, auf die andere Seite der Wachstation.
    Im Schutze der Dunkelheit schlüpfte sie in ihre Schuhe und stieg weiter bergan. Der Weg war jetzt zur Rechten in den Fels geschlagen, während auf der linken Seite der Berg steil abfiel und die Sicht freigab in ein finsteres, steiniges Tal.
    Als Anne um einen Felsvorsprung bog, blieb sie wie angewurzelt stehen: Vor ihr erhob sich in der Einsamkeit des Gebirges eine hellerleuchtete kleine Stadt. Häuser und schmale Gassen schienen wie aus dem Boden gewachsen. Als wollte sie einen Traum aus ihrem Gedächtnis wischen, fuhr Anne mit der flachen Hand über ihr Gesicht. Dabei wanderte ihr Blick nach oben, und dieser Anblick raubte ihr beinahe den Atem. Auf den Felsen in schwindelnder Höhe klebten weitere Häuser, aber sie lagen, anders als die Unterstadt, in Dunkel gehüllt, als hätten sie ein düsteres Geheimnis zu verbergen.
    Die Traumstadt war menschenleer. Man konnte nicht einmal das Bellen eines Hundes vernehmen. Das machte die Erscheinung noch unwirklicher. Vor allem das grelle Licht, in das die Häuser der Unterstadt getaucht waren, wirkte geisterhaft, metaphysisch, als hätte ein Blitzstrahl alles Leben ausgelöscht. War das Leibethra?
    Im Näherkommen bemerkte Anne, daß diese Stadt, die taghell erstrahlte, gar keine Straßenlaternen hatte; dennoch leuchteten die Häuser auf unerklärliche Weise. Obwohl der Ort uneinnehmbar wie eine Festung an dem Berghang klebte, umgab ihn zur Talseite ein hoher Drahtzaun. Der steinige Weg mündete in einem breiten Einfahrtstor. Es stand weit offen. Dahinter war die Straße mit dunklen Quadersteinen gepflastert und sauber gefegt wie ein Bühnenbild vor der Premiere, und irgendwie erinnerte sie diese menschenleere Geisterstadt an die Kulissen eines Theaters. Zum Aussehen einer wirklichen Stadt fehlten der Straßenstaub, das Papier, das für gewöhnlich auf den Straßen herumliegt, und die Gerippe herbstlicher Bäume, vor allem aber fehlten die Geräusche, die auch eine Stadt im Schlaf verursacht.
    Während Anne den Anblick von Leibethra in sich aufsog wie eine überirdische Erscheinung und überlegte, wie sie sich nun verhalten sollte, da geschah das ganz und gar Unerwartete, sie vernahm eine monotone menschliche Stimme, die sich, durch die Straßen hallend, aus dem Hintergrund näherte, allmählich lauter werdend. Anne dachte zuerst an einen mittelalterlichen Nachtwächter, so jedenfalls klang das laute Rufen, doch im Näherkommen erkannte Anne den lateinischen Text eines gregorianischen Chorals.
    Hastig schlüpfte sie durch das Einfahrtstor und verbarg sich im Eingang des nächsten Hauses, von wo sie, durch eine steinerne Säule geschützt, einen Blick auf die gesamte Hauptstraße hatte. Es dauerte nicht lange, und aus einer der Seitengassen tauchte

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