Das Fuenfte Evangelium
Bewegungen an, daß der Weg hier irgendwo weiterführe. »Wenn überhaupt«, murmelte er unwillig vor sich hin, »muß man es in den frühen Abendstunden versuchen. Bei Tag sehen sie einen schon von weitem kommen.«
»Einverstanden!« erwiderte Anne, als wäre das die selbstverständlichste Angelegenheit der Welt, und mutig fügte sie hinzu: »Wann?«
Spiliados erhob sich umständlich, knipste das elektrische Licht aus und blickte aus dem Fenster zum Himmel. »Die Zeit ist günstig«, meinte er, »wir haben Halbmond. Wenn Sie wollen – morgen.«
Nachdem Georgios das Licht wieder eingeschaltet hatte, setzte er sich zu Anne an den Tisch. Über die Landkarte gebeugt, faßten beide den Plan für den folgenden Tag. Der Grieche hatte ein Motorrad, eine Horex, die nicht weiter auffallen würde auf der Straße nach Elasson. Mit dem Motorrad würde Spiliados um vier hinter der Schmiede auf sie warten. Er wollte kein Aufsehen erregen, und Anne stimmte dem Plan sofort zu. Die Leute von Katerini sollten keine Gelegenheit zu Redereien haben.
4
D er erste Tag sollte nur zur Erkundung der Lage dienen. Anne ging es in erster Linie darum, in Erfahrung zu bringen, ob es überhaupt eine Möglichkeit gab, unbemerkt in den Ordenskomplex der Orphiker einzudringen. Sie wußte natürlich, daß das gefährlich war, und Georgios bezeichnete ihr Vorhaben als glatten Selbstmord. Aber es gab da eine Überlegung, die ihre Selbstsicherheit stützte: Irgendein Grund mußte vorhanden sein, warum sie die Orphiker bisher verschont hatten.
Die Nacht war kühl, aber nicht kalt, als Anne zu ihrem Hotel zurückging. Seit sie ihre Hotelrechnung für eine Woche im voraus bezahlt hatte, zeigte sich Vasileos ihr gegenüber unerwartet freundlich, was sich bei einem von Natur aus mürrischen Menschen wie ihm auf die Worte beschränkte: »Kali mera , wie geht's« oder » kali spera , Frau Seydlitz«; aber da Vasileos allen Leuten zumeist stumm begegnete, mußte Anne auch nicht befürchten, daß er ihr Vorhaben ausplaudern würde.
Ihr Zimmer lag zur Straße hin, und in dieser Nacht kreisten ihre Gedanken um das bevorstehende Abenteuer. Lange nach Mitternacht kläfften Hunde; einer antwortete dem Gebell des anderen, und ihr Heulen hallte durch die leeren gepflasterten Gassen. Aus einem Kaphinion um die Ecke, das, wie die meisten Häuser in Katerini, eher einer Garage als einem Wohnhaus glich, dudelte endlos Bouzoukimusik, und der Abzugsventilator in Vasileos' Restaurant, das das Erdgeschoß des Hotels ›Alkyone‹ einnahm, blies brabbelnd und brummend scharfen Essensgeruch ins Freie. Späte Bummler unterhielten sich rufend über die Straße und traten auch nach einer guten halben Stunde offener Konversation nicht näher aufeinander zu, was die Möglichkeit geboten hätte, ihren Stimmaufwand zu reduzieren. Zum vierten oder fünften Mal stakte eine Frau mit hellklingenden hohen Absätzen zielstrebig die Straße entlang, um nach wenigen Minuten ebenso zielstrebig zurückzukehren. Im übrigen wurde die Nacht nur von dröhnenden Automobilen unterbrochen, deren Fahrer den leeren, glatten Asphalt des Marktplatzes als Rennbahn für ihre Fahrzeuge benutzten.
Sie hatte geglaubt, Kleibers Abwesenheit würde ihr angst machen und sie verunsichern, aber allein und auf sich gestellt, kam sie zu der Erkenntnis, das genaue Gegenteil war der Fall. So ließ Anne ihren ursprünglichen Plan, ihr Vorhaben auf der Polizeistation von Katerini zu melden, wieder fallen, nur Georgios sollte, für den Fall, daß es nach einer Woche noch immer kein Lebenszeichen von ihr gebe, Anzeige erstatten. Woher sie den Mut nahm, wußte sie selbst nicht zu erklären.
Gegen Morgen, es war noch finster, mußte Anne dann doch noch eingeschlafen sein, denn sie träumte, ein Erdbeben habe den Olymp erschüttert, und über die zerklüfteten Hänge floß glühende rote Lava in zahllosen Rinnsalen wie reißende Bäche ins Tal, und Männer und Frauen in metallisch glänzenden Booten steuerten ihre sausenden Kähne mit langen Stangen und schlugen aufeinander ein, wenn einer dem anderen den Weg nahm. Die, von denen die Boote gesteuert wurden, trugen bunte Masken vor dem Gesicht; sie waren in weite, wallende Mäntel gehüllt, und ihre Hände steckten in weißen Handschuhen, aber aus ihren Bewegungen konnte man erkennen, daß es Männer und Frauen waren. Viele der Boote, die in rasender Fahrt ins Tal schossen, zerschellten an den Felsklippen, die die Lavaströme zerteilten, und verschwanden zischend in der
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