Das Fuenfte Evangelium
durch das Nadelgeäst. Aus dem moorigen Boden zu beiden Seiten des Weges stieg dumpfer Geruch auf.
Dann, ganz unvermittelt, trat der Weg aus dem Wald heraus und eröffnete den Blick in eine Mulde, deren gegenüberliegender Rand einen keilförmigen Einschnitt aufwies, flankiert von zwei knorrigen Felsnasen.
»Das muß er sein«, murmelte Georgios, »der Eingang zur Felsenschlucht.«
Er lag keine dreihundert Meter entfernt, und im Näherkommen machte Anne vor dem rechten der beiden Felsen eine kleine hölzerne Hütte aus, mit einem quadratischen, ins Tal gerichteten Fenster.
»O Gott!« stöhnte Anne und faßte den Griechen am Arm.
»Vermutlich ein Wächterhaus vor dem Eingang der Schlucht«, meinte Spiliados.
»Und was machen wir jetzt?« Ratlos starrte Anne in die eine Richtung.
Der Grieche wußte keine Antwort und ging wortlos weiter. Er wollte den Auftrag hinter sich bringen. Schließlich wurde er nicht schlecht bezahlt. »Gegen einen bewaffneten Wächter haben wir doch keine Chance«, knurrte er unwillig.
Das Wächterhaus lag im Dunkeln. In Rufweite bezogen Anne und Spiliados Deckung hinter einem Gestrüpp, ein paar Schritte abseits des Weges. Dann hob der Grieche einen Stein auf und schleuderte ihn in Richtung auf das Holzhaus. Das Wurfgeschoß klatschte laut gegen die Wand und kullerte auf den Weg. Stille.
»Die Herrschaften scheinen ausgeflogen zu sein«, flüsterte Georgios.
Anne nickte. Behutsam näherten sie sich der Hütte. Sie vermittelte den Eindruck, als hätte sich hier schon längere Zeit niemand aufgehalten. Anne zog ihre Taschenlampe hervor und leuchtete durch das Fenster: Ein Kasten, ein einfacher Holztisch und zwei Stühle waren das gesamte Mobiliar. An der Wand hing ein altes Feldtelefon, der erste Hinweis, daß irgendwo in dieser Einsamkeit Menschen hausten. Die Tür war verschlossen.
»Die Leute von Leibethra müssen sich verdammt sicher fühlen«, bemerkte Anne, »wenn sie schon ihre Wachposten nicht mehr besetzen.«
»Wer weiß«, erwiderte Spiliados, »vielleicht werden wir längst beobachtet und tappen gerade in eine Falle.«
»Sie haben Angst, Spiliados!« zischte Anne von Seydlitz wutentbrannt. »Gut, Sie haben Ihren Teil erfüllt. Ich danke Ihnen.« Anne streckte dem Griechen die Hand entgegen. »Hier sind Ihre hundert Dollar!«
Es schien wirklich, als hätte Georgios Angst, aber die abfällige Bemerkung der Kiria hatte zur Folge, daß er trotzig entgegnete: »Behalten Sie Ihr Geld! Ich will es erst, wenn Sie wieder heil zurück sind. Ich werde Sie so weit begleiten, bis ich sicher sein kann, daß Sie am Ziel sind.«
Nichts anderes hatte Anne mit ihrer Provokation erreichen wollen; denn sie ahnte, daß das gefährlichste Stück Weges noch vor ihnen lag. Der unbefestigte Weg teilte die Sohle der Schlucht mit einem reißenden Bach, der an Stellen, wo sich beide um einen Felsvorsprung wanden, die Fahrspur aushöhlte, so daß man, wollte man nicht durch das gurgelnde Wasser waten, von einem Stein zum anderen springen mußte – ein waghalsiges Unternehmen in dem fahlen Mondlicht.
Spiliados' Gedanke, sie könnten längst beobachtet werden, schien Anne keineswegs so absurd, wie sie gegenüber ihrem Begleiter zugeben wollte. Hier in der Enge der Schlucht ließ sie der Gedanke nicht los, irgendwo könnte eine Schleuse geöffnet werden. Dann hätten sie keine Chance zu entkommen. Aber das dachte sie nur, und sie schwieg.
Die Kälte, die der Bach mit sich führte, kroch an Beinen und Armen empor und ließ sie frösteln. Vielleicht war es aber auch der Gedanke, daß es aus dieser Schlucht kein Entrinnen gab. Ihr Atem ging schwer, und die kalte Luft schmerzte in den Lungen wie ein schartiges Messer; aber Anne stapfte weiter, immer bergan. Wo der Weg über die freie Landschaft geführt hatte, war es hell gewesen; doch zwischen die hohen Felswände fiel nur selten ein Lichtschein. Georgios ging voran.
Plötzlich – Anne wußte nicht, wie lange sie schweigend hinter Georgios hergetrottet war – blieb der Grieche stehen. Jetzt sah es auch Anne: Keine hundert Meter entfernt beleuchtete ein elektrischer Scheinwerfer ein Wächterhaus, das zwischen Bach und Fahrweg lag, der sich an dieser Stelle verbreiterte.
Georgios drehte sich um. »Wie wollen Sie da vorbeikommen«, sagte er und blickte in die Höhe zum Kamm der Schlucht, der hier deutlich niedriger war als auf dem bisherigen Weg; aber fünf bis zehn Meter Fels mochten es noch immer sein, unüberwindbarer Fels.
»Erst mal sehen,
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