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Das Fuenfte Evangelium

Das Fuenfte Evangelium

Titel: Das Fuenfte Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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Stockwerken Maschendraht gezogen war. Wie die Straßen war auch das Treppenhaus grell erleuchtet.
    Anne versuchte, nicht daran zu denken, was auf sie zukommen könnte. Du hast es so gewollt, sagte sie bei sich. Ohne seinen Griff zu lockern, führte der Kahle Anne in die erste Etage des Hauses, durch eine offenstehende Tür in einen großen Raum. Hier herrschte Dämmerlicht, und Anne erkannte etwa zwanzig Feldbetten, auf denen Menschen schliefen. Der Schlafsaal machte einen durchaus sauberen Eindruck, aber die Vorstellung, einer der Schlafenden könnte plötzlich aufspringen, hatte etwas Bedrohliches.
    Zwietracht zeigte auf ein leeres Feldbett in der Nähe des Fensters und verschwand, ohne ein Wort zu sagen. Anne verstaute ihre Tasche unter dem Feldbett, dann setzte sie sich. Bis zum Morgen, dessen war sie sich klar, mußte sie von hier verschwinden. Zwietracht würde sie verraten, und wer weiß, was sie mit ihr anfangen würden.
7
    W ährend sie dasaß, den Kopf in die Hände gestützt, und nachdachte, hatte sie das Empfinden, als träte jemand von hinten an sie heran, sie glaubte sogar, eine Hand in ihrem Haar zu spüren. Mit einem Ruck drehte sie sich um, bereit, auf einen Angreifer loszugehen, da blickte sie in das verschreckte Gesicht eines Mädchens, beinahe noch ein Kind, mit zarten, weichen Zügen. Das Mädchen hielt die Hände schützend vors Gesicht, als fürchte es Schläge. Anne hielt inne. Als das Mädchen merkte, daß die Fremde sie nicht schlagen wollte, kam es näher, faßte vorsichtig in Annes Haar und streichelte es wie eine Kostbarkeit. Anne begriff: Das Haar des Mädchens war kurz geschoren. Alle Köpfe in diesem Raum waren kurz geschoren.
    »Hab keine Angst«, flüsterte Anne, aber das scheue Mädchen schreckte zurück und versteckte sich unter der Decke seines Bettes.
    »Sie versteht Euch nicht«, kam eine Stimme aus der hinteren Ecke, »sie ist taubstumm, außerdem leidet sie an Infantilismus, wenn Ihr wißt, was das ist.« Die Frau war alt, derbe Falten zerfurchten ihr Gesicht, und ihre hängenden Augenlider vermittelten den Eindruck unendlicher Traurigkeit. Dabei wirkte sie in gewisser Weise durchaus intelligent. Darüber konnten auch ihre kurz geschorenen Haare, die alle zu Anstaltsinsassen degradierten, nicht hinwegtäuschen.
    Anne musterte die alte Frau. Die legte eine Hand auf ihre Brust und sagte beinahe stolz: »Hebephrene Schizophrenie, Ihr versteht!« Und nach einer Weile, während der sie Annes Staunen auskostete: »Und Ihr?«
    Anne wußte nicht, was sie antworten sollte. Offenbar interessierte sich die Alte für den Grund ihrer Einlieferung. »Ihr könnt offen mit mir reden«, meinte sie schließlich, »ich bin Ärztin.« Die Alte sprach ziemlich laut, und Anne befürchtete, die anderen in dem Schlafraum könnten erwachen. Als Anne nicht antwortete, stieg die Alte aus ihrem Bett. Sie trug ein langes Nachthemd, unter dem ungewöhnlich große, weiße Füße hervorragten, und kam auf sie zu.
    »Keine Angst«, sagte sie, jetzt in etwas leiserem Tonfall, »ich bin hier die einzig Normale. Dr. Sargent. Laßt mich raten, warum Ihr hier seid.« Bei diesen Worten trat sie vor Anne hin, drückte mit beiden Daumen gegen ihre Backenknochen und zog ihr rechtes Augenlid nach oben. »Ich würde sagen, perniziöse Katatonie, wenn Ihr wißt, was das ist.«
    »Nein«, erwiderte Anne.
    »Nun, Katatonie, also Spannungsirresein, wird bestimmt durch Bewegungsstörungen, Unruhezustände und psychische Erregungen. In gewissen Fällen geht sie mit einer zentral bedingten Erhöhung der Körpertemperatur einher. Dann sprechen wir von perniziöser Katatonie. Nicht ungefährlich, mein Kind.«
    Das Wissen und die Klarheit, mit der die Alte sprach, machten Anne staunen. Was sollte sie von dieser rätselhaften Dr. Sargent halten? Sie mußte zugeben, ihr Puls raste, die unerwartete Situation beunruhigte sie zutiefst, und es mochte sein, daß ihre Bewegungen unkontrolliert erschienen; wie in aller Welt hatte die Alte das so schnell erkannt?
    »Was hat er Euch gesagt?« fragte Dr. Sargent unvermittelt.
    »Wer?«
    »Johannes!«
    »Er wollte mir seinen Namen nicht nennen. Ich heiße übrigens Selma, Selma Döblin.«
    Die Alte nickte: »Nennt mich einfach Doktor. Alle hier nennen mich Doktor.«
    »Also gut, Doktor. Warum gebrauchen Sie hier diese merkwürdige Anrede, warum sagen Sie ›Ihr‹?«
    Dr. Sargent hob die Hände: »Von oben verordnet. Alles, was hier geschieht, ist von oben verordnet. Ich würde Euch raten,

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