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Das Fuenfte Evangelium

Das Fuenfte Evangelium

Titel: Das Fuenfte Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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die ausgemergelte Gestalt eines Mannes auf. Sein Kopf war kahlgeschoren, und er trug ein helles, langes Gewand, eine Art Mönchskutte, die in großen Falten an seinem mageren Körper herabfiel. Inbrünstig wie ein Beter in der Kirche sang er seinen frommen Choral.
    Anne erschrak. Hatte er sie entdeckt? Der Mann kam, während er mit fester Stimme weiter deklamierte, geradewegs auf sie zu. Ängstlich suchte sie Schutz hinter der Säule. Da blieb der Kahlköpfige stehen, breitete die Arme aus und rief in die Nacht, daß es von den Wänden der Häuser hallte: » Qui amat animam suam, perdet eam; et qui odit animam suam in hoc mundo, in vitam aeternam custodit eam.« Dann drehte er sich in die entgegengesetzte Richtung und verkündete: » Ego sum via, vertias et vita. Nemo venit ad Patrem, nisi per me.«
    Der weißgekleidete Mann machte einen verwirrten Eindruck. Er ließ langsam die Arme sinken und blickte zum Himmel. So stand er regungslos starr wie eine Statue. Anne hätte erwartet, daß sich irgend jemand von dem einsamen Rufer gestört fühlte, daß irgendwo ein Fenster sich öffnete oder jemand auf die Straße trat. Aber nichts dergleichen geschah. Man hätte meinen können, der Kahlkopf sei der einzige Bewohner von Leibethra.
    Sollte sie ihn anreden? Noch bevor sie sich zu einer Entscheidung durchgerungen hatte, trat Anne hinter der Säule hervor, daß der andere sie sehen mußte. Der jedoch blieb in seiner ekstatischen Haltung und ließ sich auch durch ein heftiges Räuspern, von dem Anne annehmen mußte, daß er es vernommen hatte, nicht aus der Ruhe bringen.
    »Hallo!« rief Anne und trat noch einen Schritt näher auf den Kahlkopf zu. »Hallo!«
    Da neigte dieser seinen Kopf in ihre Richtung und öffnete mit unendlicher Langsamkeit seine Augen. Er wirkte keineswegs überrascht, ja es schien beinahe, als habe er sie erwartet, denn er lächelte Anne gütig zu und streckte ihr eine Hand entgegen. Das Erstaunlichste war jedoch, er begann zu reden und sagte: »Wer seid Ihr, Fremde?«
    »Sie verstehen meine Sprache?« entgegnete Anne verblüfft.
    »Ich verstehe jede Sprache«, antwortete der Kahlkopf indigniert, so als ob es die größte Selbstverständlichkeit wäre. »Ihr habt meine Frage nicht beantwortet.«
    »Ich heiße Selma Döblin«, log Anne. Weil ihr gerade nichts anderes einfiel, gebrauchte sie den Mädchennamen ihrer Mutter.
    Der Kahlkopf nickte: »Meinen Namen kann ich Euch nicht verraten. Ich darf es nicht. Es würde Euch erschrecken. Ich bin die Zwietracht in Person. Nennt mich Zwietracht.«
    »Merkwürdiger Name für einen frommen Mönch«, erwiderte Anne.
    »Dann nennt mich Hoffart, wenn Euch das besser gefällt«, entgegnete der Mann, »oder Hybris, aber nennt mich nicht fromm, zum Teufel.«
    Anne zuckte zusammen, weil die eben noch gutmütigen Augen des Kahlkopfes von einem Augenblick zum anderen einen stechenden Blick angenommen hatten, der einem Angst einflößte. Zwietracht oder Hoffart oder Hybris oder wie auch immer der Mann heißen wollte, hielt den Blick starr, beinahe hypnotisch auf Anne gerichtet. Anne sah in das Angesicht eines Menschen, in dem sich die Stupidität eines Irren und die Schlauheit eines Philosophen auf wundersame Weise vermischten, und sie begriff jäh, daß der kahlköpfige Mann vor ihr zu jenem menschlichen Schutzschild gehörte, mit dem die Orphiker sich umgaben, um sicher zu sein vor unwillkommenen Eindringlingen. Sie erkannte aber auch, daß dieser Mann ihr behilflich sein konnte, wenn sie es nur richtig anstellte.
    »Ihr habt das Gesetz übertreten«, sagte der Kahlkopf mit eisiger Stimme. »Kein Bewohner von Leibethra verläßt nachts ungestraft sein Haus. Das müßt Ihr wissen, auch wenn Ihr neu seid. Ich werde Meldung machen von dem Vorfall.« Dabei deutete er mit erhobenem Zeigefinger himmelwärts, wo sich die Oberstadt im Dunkeln erhob. »Und jetzt kommt!«
    Der ausgemergelte Mönch packte Anne kraftvoll am Arm und schob sie neben sich her wie eine Diebin auf dem Weg zum Verhör. Sie hätte fliehen können, doch für den Fall stellte sich die Frage wohin? Also ließ sie es geschehen und ging neben Bruder Zwietracht her die Hauptstraße entlang bis zu einer Kreuzung. Das Eckhaus zur Rechten besaß zwei Stockwerke wie alle anderen Häuser auch, aber es war breiter und hatte viele kleine Fenster. Ein kahler Gang führte zu einem Treppenhaus mit steinernen Stufen und einem kantigen, eisernen Geländer. Es wirkte wie ein riesiger Käfig, weil zwischen den einzelnen

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