Das Fuenfte Evangelium
brodelnden Glut.
Am Fuße des Berges vereinigten sich die einzelnen Rinnsale zu einem Strom, der breit anschwoll und Dörfer und Städte unter sich begrub. Menschen, die das Unheil kommen sahen, standen wie gelähmt und unfähig zu fliehen – auch Anne. Doch als der rote Fluß sie erreichte und zischend und fauchend ihre Zehen verbrannte, da erwachte Anne mit zitternden Gliedern, und sie schüttelte den Alptraum aus ihrem Körper wie verflogene Asche.
Zum vereinbarten Zeitpunkt traf sie sich mit Georgios hinter der Schmiede an der Straße, die nach Elasson führt. Anne hatte sich weite, lange Hosen beschafft, wie sie die Frauen in der Gegend trugen, und der Grieche blickte verwundert an ihr herab, weil sie aussah, wie alle Frauen aussehen, und weil er ihr das nicht zugetraut hatte. Als wollte sie sich für ihre ungewohnte Verkleidung entschuldigen, hob Anne die Schultern. Sie lachte. Sie war noch nie in ihrem Leben mit einem Motorrad gefahren, was der Grieche wiederum überhaupt nicht begreifen konnte, weil, wie er zu verstehen gab, jeder Autofahrer erst einmal auf einem Motorrad gesessen haben müsse.
5
D ie Straße führte westwärts und wurde einsamer, je weiter sie sich von Katerini entfernten. Nur hin und wieder begegnete ihnen ein Lastauto, dann kam noch eine Kreuzung mit weiß-schwarzen Wegschildern, und schließlich schlängelte sich die Straße durch menschenleeres, karges Land. Annes Augen tränten, sie war die zugige Luft auf dem Motorrad nicht gewohnt.
Nach einer halben Stunde Weges verlangsamte Georgios die Fahrt und suchte mit den Augen die linke Straßenseite ab. Zwei Zypressen markierten eine unbefestigte Abzweigung. Es gab keinen Wegweiser, und der Weg bestand nur aus zwei mit Geröll gefüllten Fahrrinnen. Georgios hielt an.
»Das ist der Weg nach Leibethra«, sagte er, und als koste es ihn große Überwindung, bog er schließlich auf die Fahrspur ein.
Es war nicht einfach, die schwere Maschine in der schmalen Fahrrinne zu lenken; Georgios vollführte wahre Kunststücke im Balancieren. »Festhalten!« rief er immer, wenn er, weil er dort den besseren Weg sah, von der einen in die andere Fahrspur wechselte.
Vor einem mit Zypressen bewachsenen Hügel ging es steil bergan. An dieser Stelle war das Geröll auf dem Fahrweg so brüchig, daß das Hinterrad durchdrehte und Schottersteine wie Geschosse nach hinten flogen. Georgios bat Anne, den Berg zu Fuß zu erklimmen; er selbst steuerte sein Motorrad unter Zuhilfenahme beider Beine den steilen Weg nach oben.
Es dämmerte, als sie auf dem Scheitel der Kuppe, den eine breite, von unten nicht sichtbare Felsnase markierte, ankamen. Georgios stellte den Motor ab und kippte sein Fahrzeug zur Seite. Er blinzelte in die Landschaft und machte mit ausgestrecktem Arm eine Bewegung nach Westen. Der Weg schlängelte sich abwärts und stieg nach etwa einem Kilometer – soweit man das erkennen konnte – wiederum steil bergan, um dort hinter schwarzen Nadelbäumen zu verschwinden.
»Dort«, sagte er, »ist der Zugang zu der Schlucht, die nach Leibethra führt.«
Anne holte tief Luft. Sie hatte sich den Weg einfacher vorgestellt. Die Stille, die sie umgab, wirkte bedrückend, die Landschaft feindselig. Dazu kam eine feuchte Kühle, die unter die Kleider drang.
»Wir fahren bis zu dem nächsten Berganstieg«, sagte Georgios, »das letzte Stück müssen wir zu Fuß zurücklegen. Man könnte den Motorradlärm hören.«
Anne nickte. Daß dort oben hinter den schwarzen Bäumen eine menschliche Ansiedlung anzutreffen sei, war für sie nur schwer vorstellbar.
Als sie an der bezeichneten Stelle angelangt waren, schob Georgios das Motorrad in das angrenzende Gestrüpp. Aus der Ferne hörte man ein Rauschen wie von einem Sturzbach. Es kam aus der Richtung, in die der Weg führte. Dieser wand sich nun, von unten nicht sichtbar, weil er durch dichten Nadelwald führte, steil bergan. Anne keuchte.
»Sie sind verrückt!« bemerkte der Grieche zum wiederholten Male, ohne Anne anzusehen.
Die antwortete nicht. Der Grieche hatte recht; aber verrückt war alles, was sie in den letzten Monaten erlebt hatte. Und dieser gottverdammte, düstere, steile, steinige Weg war der einzige, der sie einer Lösung näher brachte. Für einen Außenstehenden war das schwer zu begreifen.
Je höher sie stiegen in der grauen Dunkelheit, desto lauter wurde das Rauschen. Im Gehen vermittelte es den Eindruck von vielstimmigem Flüstern. Vom Tal her kam leichter Wind auf und fauchte leise
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