Das Fünfte Geheimnis
diese Straße ansah, sah sie sich selbst, wie sie Richtung Süden ging. Es war eine trockene Straße; ihr Mund schmerzte vor Verlangen nach Wasser, und sie konnte das Ende der Straße nicht sehen. Sie schien weiterzuführen bis zum äußersten Punkt ihrer Ängste.
Sie schüttelte den Kopf, versuchte diese Straße verschwinden zu lassen, in der Hoffnung, daß sich ein anderer Pfad offenbaren würde. Aber er blieb: glänzend, unerbittlich.
»Ich möchte das nicht«, protestierte Madrone, aber ohne Nachdruck. Sie wußte, letztlich konnte sie nicht ablehnen. »Warum ich?«
Auf der Straße wand sich eine Schlange, schillernde, perlmuttfarbene Haut, die sie mit einem Auge ansah. »Wegen deiner Gaben«, sagte die Schlange und schlängelte davon und ließ Madrone auf der Insel der Toten zurück. Sandy kam auf sie zu. Er streckte seine Hände nach ihr aus. Sie waren rauh, Gartenerde haftete ihnen noch an. Sie erinnerte sich, wie er sich am Ende des Tages wusch und seinen Kopf unter den Wasserhahn hielt, um sich Wasser ins Gesicht zu spritzen, und die tonlosen Lieder, die er während der Arbeit summte. Sie hatten zu den normalen Hintergrundgeräuschen ihres Lebens gehört . Damals hatte sie nicht bemerkt, wie diese Klänge die Essenz ihrer Liebe zu ihm waren.
»Am Ende kommen wir alle hierher«, sagte Sandy, »aber beeile dich nicht, Madrone. Du mußt die Zeit deines Lebens aushalten. Erfreue dich daran. Ich möchte, daß du dich freust.«
»Ich tue es«, sagte Madrone, »ich werde es.«
»Es ist ein schwerer Weg, diese Reise in den Süden. Du kannst überleben, aber nicht, wenn du dich auf den Weg machst, um zu sterben. Dein Tod wird nichts verändern. Dein Leben vermag es vielleicht.«
»Ich will nicht sterben«, sagte sie, »ich wollte nur an dem kalten Ort bleiben, weil das Licht so schön war. Nichts weiter. Ich will das nicht mehr.«
»Bird hat dich geerdet.«
»Das klingt komisch.«
»Ich freue mich für dich. Ich segne dich«, sagte Sandy, »ich bin nur ein kleines bißchen eifersüchtig.«
»Sandy, ich habe vor Angst die Hosen voll. Ich möchte nicht in den Süden gehen. Ich bin eine Heilerin, keine Heldin.«
»Wenn es wirklich dein Weg ist, wenn du ihn wirklich gehen sollst, dann findest du auch den Mut es zu tun.«
»Wo?« fragte Madrone.
Er beugte sich über sie, umhüllte sie mit einem Wasserfall schwarzer Haare und küßte sie. Dann war er verschwunden.
✳✳✳
Als sie den Kreis wieder geöffnet hatten, aßen sie gemeinsam Granatäpfel aus dem Delta.
»Was habt ihr gesehen?« fragte Maya.
»Ich sah mich selbst in Richtung Süden gehen«, sagte Madrone, »ich möchte nicht gehen. Ich habe Angst. Aber das war meine Vision.«
Bird nahm ihre Hand und hielt sie fest. Sie saßen still zusammen und starrten in das Kerzenlicht im Dunkel.
Kapitel 12
Der Rat der Heiler versammelte sich im kleinen Konferenzraum des Krankenhauses. Von den Wänden strahlten leuchtend bunte Wandmalereien, Töpfe mit Kräutern schmückten die Fenster. Aber der Raum blieb trotzdem was er war: Eine einfallslose Schachtel, steriles Architektur-Produkt einer vergangenen Zeit. Madrone entdeckte einen niedrigen Tisch mit Kuchen in der Mitte des Raumes und nahm sich ein Stück. Bird erzählte gerade Einzelheiten seiner Reise in den Southlands. Sam und die anderen spöttelten ein wenig wegen seiner Theorien über die Epidemie und ihre Ursachen. Zum heutigen Treffen waren überraschend viele gekommen, fünfzehn bis zwanzig Leute verteilten sich auf die Sofas und Sessel oder standen in Grüppchen beisammen. Dann, wie auf Kommando, senkte sich Stille über den Raum.
»Das Web bittet um einen Heiler«, erhob Bird seine Stimme. »Sie brauchen Hilfe. Die Stewards kontrollieren die Gegenmittel und die Immuno-Booster, ohne diese müssen die Menschen sterben.«
»Ich wollte, ich könnte einen dieser Immunverstärker mal in meinem Labor analysieren«, sagte eine Frau. Ihr schmaler Körper war in ein drachenbesticktes Kleid gehüllt, wie es die Menschen im Nordteil der Stadt gern trugen.
»Klar, das wollen wir alle gern«, sagte Sam. »Die Frage ist, ob es die Sache wert ist, sein Leben zu riskieren, um etwas davon zu holen?« »Sie brauchen einen Heiler«, wiederholte Bird. »Ich bin bereit, zu gehen, und ich bin nicht der einzige«.
Sam sah ihn an, runzelte die Stirn, verharrte aber in seinem Schweigen. Verdammter Kerl, hätte Bird am liebsten geschrien. Ich bin kein Krüppel, ich kann alles, was ich will. Aber er schwieg
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