Das Fünfte Geheimnis
an der Grenze zwischen beiden. Wie eine Hexe, das Wort kommt von haggibutzu, was soviel heißt wie: die auf der Hecke sitzt.«
»Natürlich kenne ich das«, sagte Madrone, »ich las davon in einem von Mayas Büchern.« Ihre Finger trommelten nervös auf der Tischplatte herum. Wahrscheinlich konnte auch Lily ihr nicht sagen, was sie eigentlich wissen wollte. Bleibe ich am Leben oder werde ich sterben?
»In einem normalen Traum spricht die spirituelle Welt zu uns. Aber ein Klar-Träumer kann zurückfragen, kann den Traum beeinflussen und damit auch die wirkliche Welt.«
»Ist es das, was meine Träume bewirken? Hat das mein Tun während meiner Krankheit beeinflußt?«
»Es gibt verschiedene Arten von Klar-Träumern. Einige träumen nachts im Schlaf mit geschlossenen Augen. Andere träumen tagsüber mit offenen Augen. Solche wie Maya, erzählen Geschichten, die zu den Träumen anderer werden.«
»Ich habe zwei immer wiederkehrende Träume«, sagte Madrone. »Ich träume oft von Patienten und Heilern. Dann wache ich auf, müde und zerschlagen von der Anstrengung. Doch nun träume ich öfter von einer ausgedörrten Landschaft, von Staubwolken und von Durst, schrecklichem Durst. In diesem Traum versuche ich immer, Wasser zu finden oder jemandem Wasser zu bringen. Und dann wache ich auf.«
Lily starrte in ihren Tee und bedachte Madrone nur mit einem schnellen Seitenblick.
»Die Reise in die Southlands ist nicht eben leicht. Du kommst an einen Punkt, an dem du wirklich alle Kräfte brauchst. Aber dies ist wohl die Herausforderung für dich – den Kranken Heilung und Wasser ins trockene Land zu bringen.«
»Glaubst du? Ach, Lily, ich weiß nicht, was ich tun soll! Ich möchte gehen, habe aber gleichzeitig Angst davor. Ich habe Angst, so verletzt zu werden, wie Bird verletzt wurde. Und ich habe Angst vor anderen Dingen, Dinge, die ich nicht mal beim Namen nennen kann. Kann ich diese Ängste besser überwinden, wenn ich lerne, ein Klar-Träumer zu sein?«
Lily erhob sich. »Komm, mein Kind. Ich kann dir diese Fragen nicht beantworten. Ich kann dir nur helfen, Wege zu finden, um sie zu beantworten.«
Madrone folgte ihr durch die Einfahrt des runden Hauses und stieg mit Lily eine Wendeltreppe hinunter, tiefer und tiefer. Es war dunkel und kühl. Schließlich kamen sie durch einen niedrigen Torbogen in eine gewölbte Halle mit einer Reihe von Türen an jeder Seite. Lily öffnete eine, und Madrone folgte ihr in einen runden, dunklen Raum. Eine Kerze warf mildes Licht auf weiße Wände. Unter den Füßen spürte sie einen weichen Teppich.
»Leg dich hin«, hörte sie Lily sagen. Madrone gehorchte, ließ sich auf den Teppich sinken und schloß die Augen.
»Und jetzt«, sagte Lily, »zeige ich dir, wie du atmen mußt, um hellsichtig zu träumen.« Sie führte Madrone mit wachsender Intensität durch mehrere Meditationen, machte Atemübungen mit ihr, bewegte ihre Hand durch Madrones Aura, wob neue Muster in die Energie. Madrone fühlte sich tiefer und tiefer in Schlaf versinken, wußte aber, daß sie nicht schlief. Flog sie? Ich fühle mich so frei, dachte sie. Ich kann überall hingehen, überall wohin ich will. Ich möchte nach Hause, hörte sie eine Mädchenstimme in sich rufen. Sie fühlte sich schweben, schnell wie der Wind – südwärts, immer nach Süden – schon war Süd-Californien verschwunden, über die Wüsten und das Hochplateau von Mexiko, südwärts zu dem kleinen Guadeloupe, eingebettet zwischen Nicaragua und El Salvador, wo ein kleines weißgetünchtes Haus an einer staubigen Straße stand, die Tür verwittert von Wind und Regen.
»Nein!« Madrone sprang auf, sie mußte schlucken. Schweiß rann ihr über die Stirn. Lily blickte sie wachsam an.
»Was ist?«
Madrone schauderte. »Lily, ich glaube, ich kann das nicht.«
»Wo bist du gewesen?«
»Ich wollte nach Hause. In das Zuhause, wo ich geboren wurde, unten in Guadeloupe. Das Zuhause, wo meine Mutter starb. Aber das möchte ich nicht sehen, Lily. Ist es das, was ich als hellsichtige Träumerin zu tun habe?«
»Was du als erstes zu tun hast, ist, dich unter Kontrolle zu haben«, sagte Lily betont ruhig. »Obwohl ein guter Träumer keine Angst davor haben muß, Dinge zu sehen, die der Geist sich vorstellen kann.«
»Aber ich habe Angst. Ich kann mir nicht helfen.«
»Wo Angst ist, ist auch Kraft«, sagte Lily.
»Ich bin mir nicht so sicher, ob ich mir diese Kraft wünsche«, stöhnte Madrone. »Mir scheint manchmal, ich habe schon zuviel davon.
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