Das Fünfte Geheimnis
ebenfalls.
»Können wir ihnen irgendwie trauen?« fragte Lou.
»Ich tue es«, sagte Bird mit fester Stimme.
»Ich glaube, wir sollten es«, sagte Sam langsam. »Erstens einfach aus Humanität. Zweitens aus Strategie. Nichts ist abschreckender für feindliche Kräfte als eine Rebellion im eigenen Land. Wenn die Stewards in den Southlands kämpfen müssen, wird sie das vielleicht hindern, uns zu belästigen. Oder wenigstens ihre Kräfte schwächen, falls sie es doch tun.«
»Aber wen könnten wir schicken?« fragte Askia.
»Jemanden, der mit den Vorräten und Ressourcen der Hügelleute auskommen kann«, sagte Sam.
»Und wer könnte das sein?« fragte Lou.
»Keine Ahnung, ich sagte es schon«, knurrte Bird ärgerlich. »Sie brauchen auch weniger einen Arzt, sondern vielmehr einen Wunderheiler, einen Schamanen, der allein durch Handauflegen heilt.«
Niemand wagte, Madrone anzusehen. Alle hielten den Blick gesenkt, oder knabberten an den Resten ihres Kuchens.
»Ich möchte nicht gehen«, sagte Madrone. »Ich bin nicht verrückt. Ich will hierbleiben, wo ich mich nützlich machen kann.«
»Du hast jedes Recht, das zu sagen«, antwortete Sam.
»Aber ich werde gehen«, sie stand auf, »wenn ihr alle denkt, daß ich gehen sollte. Ich gehe dann gern. Es deckt sich mit meinen Visionen und nächtlichen Träumen. Vielleicht bin ich dazu bestimmt.«
»Nein!« Lourdes und Aviva riefen es gleichzeitig. Sam sah sie an, die Linien in seinem Gesicht wurden schärfer.
»Was für ein Durcheinander«, stöhnte er.
»Fühlst du dich stark genug?« fragte Lou besorgt.
»Jetzt nicht«, gab Madrone zu. »Aber in einigen Wochen, vor Juli jedenfalls. Liebe Lou, ich überschätze meine Kräfte bestimmt nicht. Ich könnte jetzt weiterarbeiten. Aber um die Küste hinunterzureisen und angesichts dessen, was dort auf mich wartet, brauche ich etwas Vorbereitungszeit.«
Sam drehte sich zu der Frau im Drachenkleid um: »Ist da jemand in der Nordstadt, der mitgehen würde?«
Sie schüttelte den Kopf. »Wir haben zwar viele Spezialisten, und unsere Forschung in Bezug auf Ch'i ist schon sehr weit. Aber wir brauchen auch die entsprechende Ausrüstung, um heilen zu können, Kräuter und pharmazeutische Geräte und die Möglichkeit, unsere Akupunkturnadeln zu sterilisieren. Gute Heiler sind rar, und die in unserem Team sind alle schon über sechzig, einer davon ist sogar blind. Ich wüßte keinen, der diese Reise machen könnte.«
»Dasselbe gilt auch für die Weststadt«, warf ein Mann ein.
»So geht das nicht«, murmelte Sam.
»Das finde ich auch«, stimmte Madrone zu. »Aber noch weniger gefällt mir, wie alles langsam zerfällt, sich die Epidemie ausbreitet, und die Steward-Truppen können jeden Moment anrücken und uns fertig machen. Wenn es eine Chance gibt, sich davor zu schützen, so sollten wir sie ergreifen.«
»Mir gefällt der Gedanke nicht, daß du allein gehen willst.« Sam sprang auf. »Vielleicht hat der Verteidigungs-Ausschuß jemanden, der mit dir gehen könnte.«
»Ich gehe mit ihr«, sagte Bird, »ich kenne den Weg.«
Sam sog die Luft scharf durch die Zähne. »Bird, ich habe immer gesagt: Du hast viele Verletzungen erlitten. Das läßt sich überwinden. Eine kleine Operation und gute Pflege, wenn du bald damit anfängst. Wenn du aber so weitermachst und deinen Körper schindest, kann es schlimm enden. Keine Frage, daß du nicht in die Southlands gehst, jedenfalls jetzt nicht.«
Bird kniff die Lippen zusammen, aber er entgegnete nichts. Madrone sprach schnell weiter.
»Ich möchte nur bis zu den Monstern vordringen, unten bei Slotown. Bis dorthin ist es relativ sicher. Ich kann dort Hilfe leisten, die Menschen trainieren, und vielleicht komme ich so zu einem Booster. Mit etwas Glück, kann ich in einem oder zwei Monaten zurück sein.«
»Möge die Göttin dich begleiten«, murmelte Aviva.
»Ich bin dagegen«, wiederholte Sam.
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»Was bedeutet es, ein Klar-Träumer zu werden?« fragte Madrone. Sie saß mit Lily am kleinen Tisch vor dem Haus. Sie tranken Tee aus schwarzen Bechern. Der Tee löste ihre Zungen, er war stark und bitter, alles Licht, alle Farben kamen ihnen heller und schöner vor.
»Dies ist die reale Welt«, begann Lily, »wie wir sie kennen und anfassen können, und dann gibt es das Reich des Ch'i, die Welt der Energie und des Geistes, die teilweise zur realen Welt gehören. Die Trennung der Welten ist nie ganz absolut. Sie sind teilweise miteinander verwoben. Ein Klar-Träumer steht
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