Das Fünfte Geheimnis
liebevolle Berührungen und den feuchten Geruch von Sex. Aber das war unerträglich; es verursachte nur Schmerzen und machte mich wütend. Dann begann ich, mich an den Wind an der Küste zu erinnern und den frischen Regen in meinem Gesicht und die reine, kalte Luft, die über dem Ozean toste. Ich konzentrierte mich darauf, auf diesen reinen, reinen Wind, bis ich begann, davon zu träumen. Wenn die Dinge wirklich schlecht für dich stehen, weißt du, dann fängst du an, daran zu denken, dein Leben zu verpfänden an etwas, das dich freundlich berührt. Da war ein Sonnenstrahl, der durch die Verdunkelung des Fensters hindurchkam. Es war das Schönste, was ich jemals gesehen hatte, dieser schmale Lichtstrahl, und ich begann zu fühlen, daß ich mit ihm sprechen konnte, ihn bitten konnte für mich mit dem Wind zu sprechen und mit den Felsen und sie bitten, mir zu verzeihen. Aber dann wurde mir klar, daß es dem Sonnenlicht und dem Wind und dem Regen und den Felsen gleichgültig war, was ich getan oder nicht getan hatte. Es hatte nichts mit ihnen zu tun. Die Anmut, die sie bieten, kann nicht verdient oder verloren werden. Es ist einfach ihre Natur, zu reinigen und zu säubern und zu heilen.«
»Ich hatte immer Angst, mir selbst zu begegnen. Irgendwie gab mir die Erinnerung an den Wind den Mut dazu. Ich fühlte mich befleckt, wie vom Teer, der nach einem Spaziergang am verschmutzten Strand an deinen Füßen kleben bleibt. Aber als ich mich entschloß, mich meinem eigenen Schmerz zuzuwenden, veränderte sich alles. Ich befand mich Angesicht zu Angesicht mit einer Schönheit, die sich in jedem Staubkorn offenbarte, das in diesem dünnen Lichtstrahl tanzte, und die sich auch in mir befand. So heilte ich, langsam. Es schien eine Art Mitgefühl zu geben, verborgen in der wahren Natur aller Dinge. Ich verpflichtete mich diesem Gefühl. Ich schwor, daß meine Hände nie wieder töten würden.«
Das Bild von Rio veränderte sich, während er sprach und begann, wie die Bäume zu glühen, aber mit einem goldenen Licht. Ich selbst strahle nicht so, dachte Bird; ich bin noch schwer, unklar durch Bitterkeit und Hoffnung.
»Als ich im Gefängnis war, dachte ich an nichts anderes als rauszukommen«, sagte Bird.
»Du warst nie voller Verzweiflung. Vielleicht wirst du es nie sein. Du hattest nichts, das du dir vorwerfen mußtest.«
»Aber ich tötete einen Mann.«
»Wann?«
»Während unserer Aktion. Einen der Mitarbeiter der Fabrikanlage.
Einen großen Mann mit Sommersprossen und sehr weißer Haut. Er kam brüllend auf mich zu und schrie ‘Nigger' und – ich weiß nicht wie, meine Hände schienen einfach den Abzug des Gewehrs, das ich trug, zu betätigen. Seine Augen erstarrten, durchsichtig wie Murmeln, und Blut lief aus seinem Mund. Dann wurde sein Gesicht zu dem Gesicht meines Vaters, wie er tot auf dem Boden vor mir lag«, dachte Bird. Aber das gab er nicht einmal den Toten preis.
»Wie sollte ich mich damit fühlen?«, fragte Bird.
»Ich kann dir nicht sagen, wie du dich fühlen solltest.«
»Aber ich weiß es nicht. War es richtig oder falsch? Hatte ich das Recht, so zu handeln? Was schulde ich jetzt, seinem Geist? Oder seinen ungeborenen Kindern? Aber wenn ich ihn nicht erschossen hätte, hätte er mich erschossen. Die Fabrikanlage wäre noch intakt und würde weiter funktionieren, ihre Gifte abgebend. Und wieviele wären dann gestorben?«
»Vielleicht können wir diese Fragen nicht beantworten«, sagte Rio, »aber hier ist eine für dich. Würdest du wieder töten?«
Bird saß für eine Weile ganz still.
»Nein«, sagte er endlich, »oh, vielleicht, wenn es keinen anderen Ausweg gäbe.«
»Es gibt immer eine Wahl«, sagte Rio.
»Manchmal ist die Wahl, lieber zu sterben.«
»Es ist nicht der Tod, der mich ängstigt. Es ist nur – diese City zu verlieren, zuzuschauen, wie sie das wird, was die Southlands bereits heute sind. Ich würde freudig sterben, um dies zu verhindern, aber ich würde es verabscheuen, zu sterben und es trotzdem geschehen zu sehen.«
»Aber würdest du töten, um es zu verhindern?« fragte Rio.
»Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht.«
✳✳✳
Madrone ritt auf einer Welle, die sie weiter und weiter mit sich fortnahm. Dann war sie an einer Kreuzung, dem Ruhepunkt, an dem sich alle Möglichkeiten wie die Stachel eines Seeigels ausbreiteten, während sie sich in dem hohlen Zentrum befand. Eine Straße glühte, wie ein von Fackeln erleuchteter Pfad zum Yule-Fest. Als sie sich
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