Das Fünfte Geheimnis
nicht.«
»Ich komme mit! Verdammt, wie kannst du nur glauben, daß ich hierbleibe? Erzähl' mir nicht, was ich nicht kann. Ich werde mitkommen - und ich fühle mich – Teufel auch – nun doppelt so stark!«
»Du siehst nicht doppelt so stark aus«, sagte Nita sanft.
»Ich bin es aber. Ich werde jeden Tag stärker. Ich fühle es.«
»Das haben wir gemerkt«, sagten alle wie aus einem Munde.
»Bird, wir sind alle Hexer. Wir wissen Bescheid. Das ist unsere Aufgabe, wie du weißt. Du kannst deine Schmerzen so wenig vor uns verbergen, wie eine Ratte sich vor einem Hund verstecken könnte. Wir riechen alles«, sagte Holybear.
»Schmerzen machen mir nichts aus.«
Die Stille, die nun folgte, war geladen mit den unausgesprochenen Argumenten aller. Madrone ging hinaus.
»Auch gut«, sagte Bird.
Die Stille wurde noch tiefer. Maya blickte starr auf ihr Strickzeug.
Bird sah der Reihe nach alle an, doch keiner rührte sich. Die Atmosphäre war zum Zerreißen gespannt. Alle fühlten, daß einer von ihnen verletzt wurde. Madrone kam plötzlich zurück. Sie trug ihr Gepäck. Ihre Wangen waren gerötet, sie preßte die Lippen zusammen.
»Okay«, sagte sie. »Du hast gewonnen. Du kommst mit. Du kannst alles. Alles klar. Ich gebe auf. Nur eins noch: Zeig mir mal, wie du das Gepäck trägst.«
Sie hielt die Sachen hoch, die Trageriemen vor seinem Gesicht. Er sah sie an, ihre Augen wirkten hart wie zwei kleine, schwarze Kieselsteine. Dann blickte er zu den anderen hinüber. Aber die taten unbeteiligt.
»Na klar«, sagte er mit einem Achselzucken. Dann steckte er seine Arme durch die Trageriemen, und Madrone ließ los. Birds Gesicht wurde schlagartig aschgrau, seine Hände verkrampften sich in die Trageriemen und Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn.
»Gebt mir eine Minute«, sagte er und machte eine Bewegung, als wolle er losmarschieren. Dann knickte sein Bein unter ihm weg, und er fiel mit einem erstickten Ausruf zu Boden. Blitzschnell waren alle bei ihm, zitternde Hände lösten die Riemen, griffen ihm unter die Arme.
»Bist du verletzt«, fragte Sage besorgt.
Bird hielt mühsam die Tränen zurück. Maya wunderte sich, warum er seinem Schmerz nicht freien Lauf ließ. Welche Kraft ließ ihn so stoisch bleiben, fragte sie, aber keiner wußte eine Antwort. Du, Rio? Sein Vater? Ich jedenfalls nicht. Oder Brigid?
»Ihr Bastarde«, fauchte Bird. Madrone massierte seine Hüften. Sage knetete seine Schultern. Nita rannte um Eiswürfel, und Holybear schlang seine Arme um Bird.
»Schrei' ruhig«, sagte er, »du fühlst dich dann besser.«
»Verdammt, ich will es nicht herausschreien«, tobte Bird, »ich will nicht, daß ihr euch so um mich kümmert. Ich möchte mich nicht noch kleiner fühlen als ich mich ohnehin schon fühle.«
Dann brach er zusammen und weinte. Alle weinten.
»Ihr seid Heiler, verdammt!«, schrie Bird, »dann heilt mich doch! Gebt mir meinen gesunden Körper zurück, gebt mir meine Hände!«
Aber alles, was sie ihm geben konnten, war ihre Nähe und ihr Verständnis. Es war nicht genug, aber es war immerhin etwas. Leise stand Maya auf und verließ den Raum.
✳✳✳
Maya lag auf ihrem Bett. Sie streckte die Arme aus und kreuzte sie dann über der Brust. »Komm, oh Tod, und nimm mich«, flüsterte sie, »ich will nicht mehr.«
»Falte deine Flügel, alte Fledermaus«, sagte Johanna ungerührt. Sie blickte auf die liegende Maya, die Arme vor der Brust gekreuzt. »Was glaubst du, wer du bist? Jesus Christus?«
»Ich war auf einer Talkshow mit ihm, früher mal«, erklärte Maya, »erinnerst du dich? Damals, im Jahr 1999. Er sagte, er sei für die große Zeitenwende zurückgekommen. Aber er war so angeekelt von der Welt, daß er wieder ging. Du weißt schon. Sag mir, war es der richtige Jesus, oder?«
»Ich bin nicht hier, um mit dir über Religion zu debattieren. Setz' dich hin, Mädchen. Du bist keineswegs tot.«
»Ich wollte, ich wäre es. Ich mag nicht weiter herumlaufen und die Leiden der jungen Menschen miterleben.«
»Warum nicht? Sind die jungen Leute heute zimperlicher als wir früher? Verdammt, nein! Diese Kids sind zäher als die Biskuits, die du zu backen pflegst. Im übrigen ist es nicht die Zeit zum jammern. Du wirst gebraucht.”
»Ich streike. Außerdem, was kann ich schon tun, nichts! Was kann ich für Madrone tun, außer ihr Ärger zu machen? Was kann ich tun für Bird?«
»Laß ihm seinen Schmerz. Versuche nicht, diesen Schmerz für ihn zu tragen. Komm, Maya, setz dich
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