Das Fünfte Geheimnis
Und er hoffte, daß es nicht nur Mitleid war.
»Und nun«, sagte er und zwang sich mühsam zu einem Lächeln, »mußt du das lernen. Dann gehört die Musik dir. Dann kannst du es singen, wenn du zur Küste hinuntermarschierst, oder wenn du Angst hast, und wenn..., wenn..., Diosa, Madrone...« Er konnte nicht weitersprechen. Er konnte sie nur ansehen und in seine Arme nehmen. Sie war warm und lebendig, sie schmiegte sich an ihn und wenn sie so nahe zusammen waren, fühlte er sich überströmen, fühlte er, wie er sie beruhigte und sie ihn. Unmöglich zu glauben, daß sie wirklich schon bald fortgehen würde.
»Dies ist eine besondere Woche«, sagte er. »Wir finden zueinander, und doch ist bald alles Erinnerung. Aber Erinnerungen sind wichtig. Sie sind auch etwas, woran man sich festhalten kann.«
Und wie um seinen Worten Taten folgen zu lassen, suchte er in seinen Erinnerungen nach weiteren Informationen für Madrones Reise in die Southlands. Informationen, die wichtig sein konnten: die Beschreibung von Orten, Namen von Leuten, kleine Begebenheiten, Gerüchte, Geschwätz.
Dinge fielen ihm wieder ein, die er vergessen zu haben meinte, Gesprächsfetzen, die er im Gefängnis mitbekommen hatte, der Geschmack des Brotes, das Gefühl von Durst. Während des Tages, wenn die anderen arbeiteten, fuhren sie mit der Gondel in der City umher. Sie lachten gemeinsam, wanderten über die Deiche, kletterten auf die grünen Hügel. Sie gingen zu den Zeremonien der Ohlone, Miwok und Pomo. Stämme, die im Herbst in die City kamen, um als Geschenk ihre alten Tänze vorzuführen. Er ließ sich von Madrone massieren und fühlte wie ihre Finger sich in seine malträtierten Muskeln und Sehnen gruben und ließ zu, daß ihre vorsichtigen Fragen in die Winkel seiner verwundeten Seele eindrangen.
Abends öffnete er das Piano, weil er wußte, daß es ihr Freude machen würde, und er versuchte zu spielen, obwohl es ihm entsetzliche Schmerzen bereitete, mehr als er je zugegeben hätte. In seinem Geist und in seinen Händen sammelte sich alles, was er an Musik in sich hörte. Aber seine Hände waren ungeschickt, fühlten sich an wie Lumpen, die an Stöcken zusammengebündelt auf den Tasten herumpatschten und einige Tonfolgen zusammenbrachten. Trotzdem machte er weiter, sang ein bißchen, spielte ein wenig, denn er wußte, daß das, was sie wirklich von ihm brauchte, das Wissen um das Unsichtbare war. Und solches Wissen konnte er ihr nur durch Beispiele vermitteln.
Sie saß bei ihm, beobachtete ihn, hörte die geheimnisvolle Kraft aus seinen stolpernden Melodien heraus – und liebte ihn so sehr, daß sie mitunter kaum noch atmen konnte.
Zu Birds größter Überraschung begann sie, seine Melodien aufzuschreiben. Sie waren teilweise recht holprig, aber nur teilweise. Es waren Abschnitte dazwischen, von denen er nicht geglaubt hätte, daß er soetwas spielen könnte. Wenn keiner in der Nähe war, begann Bird, mit Tonfolgen und einfachen Liedern zu üben. Er würde nie wieder so spielen können wie früher, doch mit der Zeit würde er wieder imstande sein, sich musikalisch auszudrücken. Aber auch das war keineswegs sicher Der Gedanke erfüllte ihn mit melancholischer Trauer. Nur versuchen mußte er es auf jeden Fall, das wußte er.
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Sie liebten sich fast die ganze Nacht. Als das blaue Morgenlicht kam, verschwanden die anderen und ließen Bird und Madrone allein. Sie schmiegte sich vorsichtig an ihn, um ihn nicht aufzuwecken. Sie sah die sanfte Kurve seiner Haut über den Wangenknochen und den leicht gekräuselten Bart, den er sich hatte wachsen lassen. Dann waren da die Momente, da er sie hart an sich riß, sie sich unter ihm wand, owohl sie eigentlich nur still zu liegen wünschte, ausgefüllt von ihm und an nichts anderes denkend als an ihn. Dann wieder sah sie so viel Liebe in seinen Augen, daß sie schauderte und ihn in sich hineinzog.
»Was wirst du tun, wenn ich gegangen bin?«, fragte sie einmal.
»Ich werde ein braver Junge sein«, antwortete Bird, »ich werde zu Sam gehen und ihm erlauben mich wieder zusammenzuflicken. Ich werde meine Tonleitern üben. Ich werde Maya herzlich anlügen...«
»Vielleicht sehen wir uns nie mehr wieder«, flüsterte Madrone. »Vielleicht werden wir nie wieder so zusammenliegen wie jetzt.«
»Wir werden uns wiedersehen, tot oder lebend. Wenn ich zuerst sterbe, werde ich dir als Geist erscheinen.«
»Das ist nicht dasselbe«, lächelte Madrone wehmütig.
»Ich gebe dir sechs Monate«,
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