Das Fünfte Geheimnis
darin mit, ein Bitten. Ganz falsch, dachte sie. Darauf war sie nicht vorbereitet. Aber sie konnte sich nun nicht mehr bremsen. »Und was später auch immer geschieht, du kannst dem besser entgegentreten.«
»Fangen wir von vorn an«, sagte Bird, »ich möchte wissen, wie ich dir helfen kann. Was brauchst du?«
»Informationen.«
»Ich werde dir alles sagen, was ich weiß.« Er schlang seine Arme um sie und hielt sie fest. »Ist das alles?«
Er hatte sich ihr geöffnet - und sie konnte nichts tun, um ihm zu helfen. »Ich fürchte mich wirklich. Wieso und wovor habe ich solche Angst?«
Er hielt sie eng umschlungen und wußte nicht recht, welche beruhigenden Worte er sagen sollte, wo er doch selbst so beunruhigt war.
»Ich habe Angst, die Dinge zu tun, die du getan hast, Angst dorthin zu gehen, wo du warst«, flüsterte Madrone, »ich habe Angst, ich könnte so zurückkommen wie du.«
Das war es also, dachte er. Die bisher unausgesprochene Angst hinter ihrer Gelassenheit. Sie bedauert mich, und sie hat Angst, so zu werden wie ich. Kein Wunder, daß ich mich ihr gegenüber bisher nicht öffnen konnte. Aber das ist nun vorbei, etwas Neues beginnt.
»Ich kann nicht behaupten, daß es richtig ist, wenn du gehst«, sagte Bird. »Das wäre eine Lüge. Ich weiß nicht, was dir passieren würde.«
»Ich will auch gar nicht, daß du mir das erzählst. Ich möchte mit dir über Angst sprechen. Jeder in dieser Familie ist so verdammt heldenhaft. Ich fühle mich als Außenseiter.«
Bird lachte und zog sie fester an sich. »Nein, Liebling, du bist kein Außenseiter. Ich zum Beispiel bin auch kein Held. Hätte ich gewußt, was mir passieren würde, ich wäre nicht gegangen. Ich war jung und ahnungslos. Ich dachte, ich würde sterben, ein sehr romantischer Gedanke und völlig unvorstellbar, wenn du dich an die damalige Zeit errinnerst. Jedermann starb. Todo el mundo.«
»Zumindest sah es so aus.«
»Alles, was ich sagen kann ist: Die Angst vergeht nicht, aber sie verändert sich. Wenn wirklich schlimme Dinge passieren, dann passieren sie. Du mußt dich ihnen dann stellen, du hast dann keine Wahl.«
»Schätze, so ist es, ich weiß«, sagte Madrone. »Es ist wie bei einer schwierigen Geburt. Man kann nicht aufhören, man kann nur weitermachen bis zum Schluß. Aber sich das im voraus einzugestehen, das ist schwer. Hattest du Angst, bevor du damals gingst?«
»Irrsinnige.«
»Ich möchte nicht sterben«, sagte Madrone, »ich wünschte du kämest mit mir. Ich habe Angst vor dem Alleinsein.«
»Ich werde bei dir sein. Im Geiste.« Bird zog sie wieder an sich und senkte den Kopf. »Nicht ein Moment am Tag wird verstreichen, an dem ich nicht in Gedanken bei dir sein werde.«
»Ich weiß.« Sie schmiegten sich aneinander. Die Berührung durch seinen Körper fühlte sich so süß an, daß sie nicht wußte, wie sie sich jemals wieder losreißen sollte.
Doch dann löste er sich aus der Umarmung, küßte sie sanft auf die Stirn. »Ich möchte dir einiges von mir mitgeben«, sagte er. »Ich habe darüber wieder und wieder nachgedacht. Etwas, was du nicht verlieren kannst, etwas was dir niemand nehmen kann. Ich habe ein Lied für dich gemacht.«
»Bird!«
»Ich kann es leider nicht für dich spielen, aber – komm her.« Er nahm ihre Hand und führte sie zu der Bank neben dem Klavier, das an der Wand stand. »Setz dich, und laß mich singen.«
Sie saß neben ihm auf der Bank, wohl wissend, was dieses Geschenk für ihn bedeutete. Linkisch, ungeschickt, strich seine Hand über die Tasten, formte einen Akkord, formte eine Melodie. Er sang, etwas heiser, aber es war die schöne Stimme an die sie sich von früher erinnerte.
Es war ein Stück seiner eigenen, ureigenen Musik, wie er das bei sich nannte, jener Melodie, die er hörte, als er zwischen Tod und Leben schwebte. Ein Stück jener Musik, die ihn ins Leben zurückbegleitet hatte. Jener Musik, die seinen Händen zeitweise die Kraft zu heilen verliehen hatte. Er konnte es nicht richtig spielen, er hätte es nicht einmal gekonnt, wenn seine Hände völlig in Ordnung gewesen wären, es war eher ein Echo jener Klänge, an die sich sein Herz erinnerte. Und so war es auch nur eine Ahnung jener Musik, die er da ungeschickt spielte und mehr summte als sang. Peinlich berührt wollte er aufhören, doch Madrone schüttelte engergisch den Kopf.
»Nicht aufhören, Bird«, flehte sie, »es ist wunderschön.«
Er sah an ihrem Gesicht, daß sie es wirklich so empfand, daß sie bewegt war.
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