Das Fünfte Geheimnis
waren Essen, Trinken und Ruhe.
Ein alter Witz schoß ihr durch den Kopf, etwas über Instant-Wasser, einfach nur Wasser zufügen und umrühren.
Sie schob den Gedanken beiseite, legte Hijohn die Hände auf die Stirn und begann zu meditieren. Sie konzentrierte ihren ganzen Willen auf Hijohn, atmete tief und regelmäßig und drückte dabei ebenso regelmäßig sanft auf seine Stirn. Als der Kranke ihr ruhiger vorkam, stand sie auf und ging zu dem ausgetrockneten Flußbett. Suchend blickte sie sich um, dann bückte sie sich und ging zurück zu Hijohn. Es war ein kleinerer, runder, völlig glatt geschliffener Stein, den sie mitbrachte. Sie hielt ihn feierlich in alle Vier Heiligen Richtungen und betete um Kraft.
Dann hielt sie den Stein ebenso feierlich dicht über Hijohn. Sie fuhr damit seine Gliedmaßen entlang, von unten nach oben, und dann, mit einem Ruck riß sie den Stein über Hijohns Kopf hinweg von dem Körper fort. Weit schleuderte sie den Stein fort und mit dem Stein auch die Krankheitsdämonen, die sie aus dem Körper herausgezogen hatte.
»Das Fieber ist fort«, sagte Rocky, die ihre Hand auf Hijohns Stirn legte, ehrfürchtig.
Madrone nickte: »Er wird wieder gesund werden. Können wir ihm etwas Wasser geben?«
Rocky nicke und brachte eine winzige Tasse. »Hijohn«, sagte sie, »hier ist Wasser für dich. Kannst du sitzen?«
Der Kranke stöhnte und schlug die Augen auf. Rocky hob seinen Kopf hoch und hielt ihm die Tasse an die Lippen. Beide beobachteten, wie vorsichtig Hijohn trank. Zuerst nahm er nur einen winzigen Schluck, rollte das köstliche Naß auf seiner Zunge hin und her, und dann erst, nach einem langen, langen Moment, schluckte er. Dann nahm er den nächsten Schluck auf die gleiche Weise. Drei solche Schlucke und die Tasse war leer.
»Kann er noch mehr haben?« fragte Madrone, »eigentlich müßte er nun sehr viel trinken, sehr viel sogar, um seinen Körper sozusagen durchzuspülen und zu reinigen.«
»Ich bringe ihm noch eine Tasse«, sagte Rocky erschrocken, »aber wir haben nicht viel. Es ist kein gutes Jahr für Wasser.«
»Wir haben doch zehn Gallonen mitgebracht«, wunderte sich Madrone.
»Ja, schon«, gab Rocky zurück, »aber die müssen wir für den Sommer aufheben. Dann trocknen die kleinen Quellen hier auch noch aus.«
»Eine Tasse noch«, sagte Madrone resolut. Sie beugt sich wieder über Hijohn und legte ihm erneut die Hände auf die Stirn. Wieder schickte sie Energieströme durch seinen Körper, um den einsetzenden Reinigungsprozeß durch das Wasser zu unterstützen. Gleichzeitig versuchte sie, ihrer aufsteigenden Panik Herr zu werden: »Wenn das schon alles ist, was er bekommt, wieviel bekomme dann ich?«
Ich überstehe das, versicherte sie sich, ich überlebe das bestimmt, ganz sicher sogar. Doch plötzlich erinnerte sie sich an den Fluß, der neben dem Black Dragon House dahinströmte. Sie hörte förmlich das fröhliche Plätschern, roch die feuchte Erde im Garten hinter dem Haus. Was mache ich nur hier? fragte sie sich verzweifelt. Es gab doch gar keine Arbeit hier für sie.
Aber dann versorgte sie weitere Kranke und fühlte sich doch nützlich. Als sie Stunden später etwas Ruhe fand, bemerkte sie, daß sie
und Rocky die einzigen Frauen waren.
»Gibt es gar keine anderen Frauen hier?« fragte sie.
»Doch, doch. Du wirst sie kennenlernen, wenn es an der Zeit ist«, gab Rocky zurück. Madrone schien es, daß Rocky ihr etwas verbarg, aber sie kam nicht dahinter, was es sein könnte.
»Gibt es noch weitere Kranke?«, fragte Madrone, nachdem sie alle Männer versorgt hatten.
Rocky zögerte: »Ja, einer, aber mit dem ist es, nun ja, anders...«
»Zeig ihn mir!«
Rocky blickte Baptist fragend an, der gerade mit einem Bündel Feuerholz herankam. Ein stummes Zwiegespräch spann sich zwischen ihnen an. Einige Gesten und Handbewegungen, ein Heben der Augenbrauen, ein leichtes Achselzucken. Heimweh durchflutete Madrone. Wie gut sie das von zu Hause kannte. Nur hier war niemand, mit dem sie sich so wortlos und so gut verstand, niemand, der schon einen leisen Seufzer ihrer Lippen zu deuten wußte.
»Dorthin«, sagte Rocky schließlich zu Madrone. Sie gingen um einige Steine herum, folgten einem Trampelpfad und gelangten schließlich in den Schatten einer größeren Sykamore. Rocky nickte in eine Richtung. Madrone folgte ihrem Blick und erschrak. Da lag jemand, ein Mensch, über und über bedeckt von einem Schwarm Bienen. Sie krochen auf ihm herum, schwärmten in dunklen
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