Das Fünfte Geheimnis
Wolken hoch und ließen sich wieder nieder. Tiefes Gesumm lag in der Luft. Die Bienen waren überall, sie bedeckten das Gesicht dieses Menschens völlig, seine Schultern, seine Arme, den Oberkörper und... Madrone vermochte nicht zu erkennen, war es ein Mann, war es eine Frau, tot oder lebendig oder sterbend? Ihr wurde schlecht. Es war ein Bild, wie aus einem alten Horrorfilm, nur war es Wirklichkeit.
Madrone machte eine Bewegung auf den hilflosen Körper zu. Doch Rocky hielt sie schnell fest und zog sie zurück. »Nicht«, sagte sie, »es geht ihm gut. Die Bienen helfen ihm, es geht ihm gut. Störe ihn nicht, berühre ihn nicht, du machst sonst die kleinen Schwestern böse.«
Madrone wurde hellwach. Aufgepaßt, sagte sie sich. Aufgepaßt! Sie hörte das Summen der Bienen, es klang ihr jetzt geschäftig, hilfreich in den Ohren. Und nun verspürte sie auch die Ausstrahlung eines Heilungsprozesses. Dieser Mann war krank gewesen und nun heilten seine Wunden. Da war nichts, wovor sie sich fürchten mußte. Die Angst kam nur aus ihr selbst.
»Was bedeutet das?« wandte sie sich halblaut an Rocky.
»Die kleinen Schwestern sind unsere Freunde. Sie leben genauso gern wie wir. Sie füttern uns, wenn es nötig ist, und versorgen unsere Wunden.«
Honig wirkte antiseptisch, das wußte Madrone. Die Leute hier hatten ja nichts, um ihre Wunden zu versorgen. Nur Honig. Und wenn sie den auf ihre Wunden strichen, so kamen auch die Bienen. Aber da gab es offenbar noch anderes, von dem sie nichts wußte.
»Darf ich näher herangehen?«
Rocky verneinte. »Das ist nicht ungefährlich, weil die kleinen Schwestern dich noch nicht kennen. Aber Melissa kommt gleich und gibt ihm Wasser. Dann vielleicht.«
Sie setzten sich ein Stück entfernt nieder. Die Sonne brannte auf sie nieder. Madrone konnte den Duft von wildem Flieder riechen, er hing süß und schwer in der Luft. Man konnte ihn beinahe essen, und er betäubte ihr Durstgefühl. Nach einer Weile tauchte hinter den Büschen ein Lebewesen auf, eine Frau. Sie war von Bienen geradezu eingehüllt. Das Gesumm klang brausend wie ein Lied in der Kirche. Die Luft schien voller Harmonie ebenfalls zu schwingen, Madrone fühlte sich davon mitgerissen und erregt. Und ein Geruch schwebte durch die Luft, übertönte den Duft des Flieders: Honig. Die Frau kam näher, trug sie überhaupt Kleidung? Sie war so über und über mit Bienen bedeckt, daß sie es nicht nötig gehabt hätte.
»Melissa«, flüsterte Rocky.
Melissas Augen waren das einzige, was nicht von Bienen bedeckt war. Sie leuchteten dunkel. Eine einzelne, große Biene löste sich von Melissas Körper, schwirrte laut summend direkt auf Madrone und Rocky zu. Sie umsummte sie mehrfach und schien sie beide geradezu zu beschnüffeln.
»Ruhig!« warnte Rocky halblaut.
Madrone verhielt sich still. Sie hatte Bienen immer ganz gern gemocht. Sie hatte sogar schon mal bei einem Imker mitgearbeitet, und so versuchte sie in Gedanken dieser Biene ihre Bewunderung und Sympathie entgegen zu senden. Die große Biene flog zurück zu dem großen Schwarm, der Melissa umgab, und verschwand in dem Gewimmel. Nach einem Moment lichtete sich das Bienengewimmel um Melissas Gesicht, ihre Züge wurden sichtbar. Sie lächelte.
»Trink tief!« grüßte sie, »bist du die Heilerin aus dem Norden?«
»Mögest du niemals Durst leiden«, gab Madrone zurück. Sie sagte es auf Englisch, Spanisch schien hier ja schockierend zu wirken.
Melissa deutete auf den am Boden liegenden und von Bienen umschwärmten Mann und winkte Madrone, ihr zu folgen. »Keine Angst vor den kleinen Schwestern«, sagte sie, »mit mir zusammen bist du sicher.«
Sie knieten neben dem Mann nieder. Madrone hatte Mühe, seine Aura zu sehen. Ausstrahlung und Farben der Aura wurden immer wieder durch die schwärmenden Bienen unterbrochen. Sie konzentrierte sich, und dann merkte sie, daß Bienen und Mann eins waren. Die Bienen waren seine Aura, seine Vitalität, und ihre Bewegungen waren auch seine, stützten sein krankes Energiefeld mehr als sie selbst es durch Handauflegen hätte tun können. Dann bemerkte sie, wie die Bewegungen der Insekten präzise mit dem Muster heilender Energie übereinstimmten. Die innere Schicht der Insekten, die auf der Haut des Mannes herumkrabbelten, bildeten einen ätherischen Körper, und der äußere Schwarm formte ein kraftvolles, schützendes Energiefeld um ihn herum.
Dann sah sie die Wunden des Mannes. Vermutlich Verbrennungen durch Schüsse aus Lasergewehren.
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