Das Fünfte Geheimnis
Madrone empfand tiefes Mitleid mit dem Mann. Rohes Fleisch war im Gesicht und auf seinem linken Brustkorb sichtbar. Sein linker Arm wies eine klaffende Wunde auf. Diese lange Wunde verheilte aber bereits, sie war mit einer braunen Substanz regelrecht zusammengeklebt worden. Die anderen Verletzungen waren mit Honig zugeschmiert, und das zerrissene Körpergewebe sah sauber und gesund aus. Nirgends irgendwelche Anzeichen von Infektionen oder Entzündungen.
»Sehr schön«, sagte Melissa zufrieden, und zeigte auf einen sauberen Verband auf dem Arm des Mannes. »Und hier auch.« Sie hob den Krug hoch, den sie mitgebracht hatte und hielt ihn an die Lippen des Manne. Langsam und sorgfältig flößte sie ihm einige Tropfen ein. »Möchtest du auch kosten?« wandte sie sich an Madrone.
Madrone nickte und öffnete den Mund. Einige Tropfen einer feuchten, süß und stark schmeckenden Flüssigkeit rannen über ihre Lippen. Es rann ihr feurig über die Zunge, wie die ganze explodierende Kraft des plötzlich beginnenden Frühlings. Für einen langen, langen Moment, bevor sich die Süße von ihrem Gaumen verlor, fühlte Madrone sich weder hungrig noch durstig, sondern einfach nur stark.
»Wunderbar!« hauchte sie.
»Das ist unsere Art zu heilen«, lächelte Melissa, »wir haben ja nicht viel hier in den Hügeln. Aber wir haben gelernt, das Wenige zu nutzen.«
»Ich würde gern eure Heilkunst erlernen«, sagte Madrone ehrfürchtig, »dieses Getränk schmeckt stark und wunderbar. Und vielleicht lernt ihr ja auch etwas von mir.«
»Vielleicht«, gab Melissa zurück, »die kleinen Schwestern helfen uns, Wunden und Krankheiten zu heilen. Aber normalerweise sind wir, die Freunde der kleinen Schwestern, fast nie krank. Die Bienen haben einen Horror vor Krankheiten. Wird im Bienenstock wirklich einmal eine Biene krank, so töten die anderen sie sofort. Verletzte eigentlich ebenfalls. Aber mit den Jahren haben wir die Bienen dahin gebracht, Verwundungen zu pflegen, solange es noch keine Infektion gegeben hat. Es war schwierig. Wir mußten uns in die Bienenwelt einfühlen, geradezu Teil des Bienenstocks werden. Aber auch die Bienen haben gelernt, auf uns einzugehen. Ich weiß nicht, ob wir eure Heilkünste lernen können. Aber wenn du unsere lernen möchtest, so mußt du eintauchen in die Welt der Bienen. Vielleicht wird es dir so gut gefallen, daß du nie mehr auftauchen möchtet. Es ist nämlich wunderbar.«
✳✳✳
Madrone verbrachte den Rest des Tages damit, noch einmal alle Kranken zu besuchen. Dann suchte sie am Fuß des Hügels und am Ufer des ausgetrockneten Flusses nach geeigneten Heilkräutern. Sie hatte eine Ration Wasser zugeteilt bekommen für die Kranken, aber Brennmaterial war noch knapper. Feuer wurde nur in besonders eisigen Nächten angezündet, hatte ihr Littlejohn kategorisch erklärt. So war es ihr unmöglich, für die Kranken einen heilkräftigen Tee zu kochen. Sie fand einige saubere Glasgefässe und füllte sie mit Wasser und den gesammelten Kräutern, Blüten und Blättern, um einen Sonnen-Tee daraus zu machen. Madrone hätte ihre Patienten gern gebadet oder wenigstens von Kopf bis Fuß gewaschen Aber das war schlicht unmöglich. Die Bienen säuberten auf ihre ganz spezielle Art und Weise die offenen Wunden, und im übrigen mußte man auf den nächsten Regen warten.
Aber Regen gab es vermutlich das nächste halbe Jahr nicht.
»Aber das ist nicht so schlimm«, sagte Rocky, »um diese Jahreszeit kannst du immer zum Wasserfall wandern.«
Als die Dämmerung hereinbrach, entfachte Littlejohn doch ein kleines Feuer in dem Steinring und braute eine Eichelsuppe. Nachdem die Kranken damit versorgt waren, saßen sie alle im Halbkreis zusammen. Madrone fühlte, wie ihr Körper nach Wasser lechzte. Baptist teilte bedächtig Trinkbecher aus, Madrone mußte sich zügeln, um ihm die Tasse nicht aus der Hand zu reißen. Als Rocky das Wasser in die Tasse goß, wunderte sich Madrone, wie sie die Trockenheit ihrer Zunge noch eine einzige Sekunde länger aushalten konnte.
Dann waren endlich alle Tassen gefüllt. Rocky hob ihre feierlich in die Höhe, die anderen taten es ihr nach.
»Trinkt tief auf den Tag unseres Sieges!« rief Rocky, und die anderen wiederholten den Trinkspruch, gebannt auf das Wasser in den Bechern blickend. Auch Madrone hatte ihren Becher feierlich hochgehoben, eine bisher unbekannte Ehrfurcht vor dem lebenspendenden Naß erfüllte sie und eine ganz neue Achtung vor den Menschen ihr gegenüber.
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