Das Fünfte Geheimnis
hatte. Er hatte abgelehnt und war zum Wasser Council gegangen.
»Warum nur?« hatte Bird gefragt, als er ihn wenige Tage danach auf dem Markt traf.
»Weil Musik Luxus ist, Wasser dagegen eine Notwendigkeit.«
»Musik ist nicht nur Luxus. Wir alle wissen, was passiert, wenn eine Gesellschaft den Wert von Musik, Kunst und Tanz gering schätzt.«
»Wir alle wissen, was passiert, wenn die Gesellschaft nicht für das eigene Überleben sorgt!« Cress alias Carlos hatte Bird mit kalten Augen angeblickt. »Vielleicht weißt du es nicht. Ich weiß es aber. Ich bin in Fresno geboren. Ich weiß, wie das ist, wenn die Temperaturen auf vierzig, fünfzig Grad steigen. Tag für Tag. Das Getreide vertrocknet auf dem Halm, und es gibt Woche für Woche weniger Nahrung. Meine Leute wollten nicht fortgehen, wie es viele taten, und dann kam das Erdbeben 2027. Wir haben vorher so viel Wasser aus den unterirdischen Wasserreservoirs gepumpt, daß die Hohlräume bei dem Erdbeben zusammenbrachen. Alles zerbrach und zerbarst. Meine kleine Schwester und ich wurden unter den herabstürzenden Dachbalken unseres Hauses begraben. Ich höre noch ihre Stimme, die um Wasser bat, immer schwächer und schwächer, bis sie starb.«
Bird hatte den Mund geöffnet, um etwas zu sagen, aber Carlos sprach weiter, bevor er antworten konnte.
»Drei Tage später grub mein Vater uns aus. Meine Brüder waren tot, meine Mutter war tot, nur wir zwei hatten überlebt. Wir gingen zur Bay, anders als die irregeleiteten Menschen, welche den Millennialisten glaubten, die vor einer Brutstätte des Satanskultes warnten. Die anderen gingen über die Grenze nach Oregon, oder nach Süden zu den Arbeits-Camps bei L. A. Aber wir gingen hierher. Es kostete uns drei Wochen, drei Wochen in glühender Hitze, jeder Tropfen Wasser war kostbar. Glaube mir, wir haben auf diesem Weg keine Lieder gesungen. Wir verschwendeten keinen einzigen Gedanken an Musik.«
Bird hatte beschwichtigend seine Hand auf Carlos Schulter gelegt, aber der hatte sie abgeschüttelt und war mit einem kurzen Gruß gegangen.
Er hat mir damals mehr erzählt, als er eigentlich wollte, dachte Bird nun. Mehr als er wollte, und dafür haßt er mich nun. Aber ich konnte auch nicht richtig mit ihm sprechen, wie alt war ich denn damals? Achtzehn? Was hätte ich seinem Leiden entgegensetzen können? Nichts.
Aber jetzt? Jetzt haßt er mich, weil ich über Leid ebenfalls Bescheid weiß.
»Unser Mumm steht hier nicht zur Debatte«, riß ihn Lilys Stimme aus dem Grübeln. »Wenn Mut alles wäre, was wir brauchen, hätten wir keine Probleme. Aber Kriege werden nicht mit Mumm ausgefochten, sondern mit Waffen. Dessen müssen wir uns bewußt sein.«
DIE WAHRE REVOLUTION IST DURCH DIE LIEBE MOTIVIERT. Das hatte auf dem Ché-Poster gestanden, fiel Maya plötzlich wieder ein.
»Jedes Bewußtsein hat seinen eigenen Rhythmus«, fuhr Lily fort, »wenn aber zwei verschiedene Bewußtseinsrhythmen zusammentreffen, werden sie sich angleichen und verstärken. Wie zwei Uhren, die verschieden ticken. Jede verstärkt die andere.«
»Und was hat das mit uns zu tun?« fragte Cress.
»Das hat damit zu tun, daß die Eindringlinge, wenn sie erst einmal hier sind, mehr und mehr wie wir werden.«
»Könnte es nicht umgekehrt sein: Wir werden mehr und mehr wie sie?« fragte Bird. Ist mir das nicht selbst passiert, in den zehn Jahren, die ich dort war, so daß ich Mühe habe, mich hier wieder anzupassen? dachte er.
»Das ist die Frage, der wir nachgehen und die Kunst, die wir entwickeln sollten«, antwortete Lily. »Die Kunst, uns zu erinnern, wer wir wirklich sind. Wenn wir bleiben, wie wir sind, muß sich der Feind ändern.«
»Du glaubst doch nicht an Wunder«, knurrte Cress.
»Nur ein Wunder kann uns retten. Und wer sollte dieses Wunder für uns tun, wenn nicht wir selbst?«
»Wir brauchen Werkzeuge, um Wunder zu bewirken. Wir brauchen Waffen, und wir haben nur noch wenig Zeit. Was, wenn wir die Produktion möglichst schnell starten, rund um die Uhr, jeder hilft mit?« warf eine Frau neben Cress ein.
»Wir haben keinen Stahl, unsere Fabriken sind nicht auf Waffenproduktion eingerichtet, das ist keine Sache von Wochen, sondern von Jahren. Wir können nicht mit einer Gesellschaft gleichziehen, die Waffen ganz oben auf ihrer Prioritätenliste hat«, widersprach eine Frau in der einfachen Kleidung der Techniker.
»Wenn wir uns auf herkömmliche Art verteidigen, werden wir in alte Denkmuster zurückfallen und alles verlieren, was wir
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