Das Fünfte Geheimnis
All unser Reichtum, so viele junge Menschen, all die technischen Geräte, alle Rohstoffe wurden diesem gefräßigen Krieg in den Rachen gestopft. Der Kalte Krieg, der Vietnam-Krieg, der Krieg im Nahen Osten, Krieg in Lateinamerika, ja Krieg in den Gettos hier, große Kriege, kleine Kriege und der unsichtbare Krieg um die endlose Aufrüstung für einen nuklearen Krieg. Wir bekriegten uns selbst, indem wir Nukleartests durchführten, bescherten unseren Bürgern Krebs und leugneten die Zusammenhänge, vergifteten das Heilige Land der Indianer, verwandelten große Flüsse in radioaktive Abwässer, und wenn es Hoffnung auf Frieden gab, fanden wir bald einen neuen Feind, so daß die sinnlose Verschwendung weitergehen konnte. Unsere Umwelt wurde verschlissen, verbrannt oder in Giftmüll verwandelt, Giftmüll, der zum langsamen Mörder an unseren Kindern wurde.
Inzwischen ist alles verfallen. Als ich geboren wurde und aufwuchs, in den fünfziger Jahren, glaubten alle, wir würden im Land der unbegrenzten Möglichkeiten leben. In einem Land, in dem niemand arm sein mußte. In einem Land, wo jeder, der nur guten Willen hatte, aufsteigen konnte. Als mein Kind geboren wurde, in den Neunzigern, war das schon anders, da gab es viele Arme. Immer mehr Obdachlose schliefen auf Bänken in Parks oder in abbruchreifen Häusern. Junge Leute wurden kriminell, um an Geld für Drogen und Alkohol zu kommen. Unser Mitleid mit ihnen schwand schneller als der Regenwald abgeholzt werden konnte. Die Warnsignale häuften sich: Klimaveränderungen, immer mehr Tierarten und Pflanzen verschwanden, das Ozonloch wuchs, und bisher unbekannte tödliche Krankheiten tauchten auf. Doch selbst als wir noch eine Chance hatten, vieles zu ändern und unsere Umwelt vor den Folgen unseres gedankenlosen Tuns zu retten, gab es immer noch Krieg.
Was ich immer gesagt habe, und was ich nicht aufhören werde zu fordern: Es muß Schluß sein damit. Die Zeit ist reif. Es wird immer einen angeblich guten Grund geben zu kämpfen und zu töten und noch mehr Waffen zu produzieren. Vor zwanzig Jahren haben wir dieses Council gegründet: Wir alle wußten, daß ein Tag wie heute kommen mußte, aber wir haben alle gehofft, daß wir dann andere Möglichkeiten haben, um uns zu wehren. Nun ist es soweit. Nun müssen wir uns dieser Herausforderung stellen. Oder wir werden alle sterben. Vielleicht erholt sich die Erde und bringt eine neue Menschenrasse hervor, mit mehr Bewußtsein, weniger aggressiv vielleicht und weniger extrem.«
Langes Schweigen. Dann brandete Applaus durch die Halle.
Gut gesagt, Maya, dachte Bird, du hast mich überzeugt.
Als wieder Ruhe eingekehrt war, erhob sich Joseph: »Wer hat noch etwas zu sagen?«
Sachiko von der Musiker-Gilde stand auf. »Mir scheint, diese Entscheidung ist beides, strategisch und spirituell. Es gibt in unserer Gemeinschaft große Unterschiede. Wir haben verschiedene Ahnen, verschiedene kulturelle Hintergründe, verschiedene Wertanschauungen, verschiedene Religionen...«
»Meine Religion heißt Wasser!« unterbrach sie Cress, »Wasser ist meine Politik, Wasser ist meine Strategie.«
Einige klatschten, aber Salal blickte eisig, »jemanden zu unterbrechen ist eine Form der Einschüchterung, Cress. Warte, bis du das Wort bekommst.«
Der Sprecher hob die Hand und bat damit um Ruhe, er beugte sich zur Fisch-Maske.
»Freund Fisch sagt: Lernt vom Wasser. Wasser ist anschmiegsam, Wasser ist sanft, aber steter Tropfen höhlt den Stein, und nichts bleibt auf Dauer vom Wasser unberührt.« Er setzte sich wieder.
»Ich wollte gerade etwas sagen«, meldete sich Sachiko.
»Dann sprich«, nickte Joseph.
»Spirituell haben wir ihre Wurzeln. Aber wir dürfen nicht vergessen: Was uns alle eint, ist die Deklaration der Vier Heiligen Dinge. Sie sagt uns, daß Erde, Feuer, Wasser und Luft heilig sind, weil wir nicht ohne sie leben können. Ihr Wert geht noch über jedes menschliche Vorstellungsvermögen hinaus. Und unsere Deklaration sagt, daß alle Lebewesen Teil des Lebens auf der Erde sind - und deshalb heilig.
Manche glauben darum, es sei falsch zu töten, es dürfe keine Kriege geben. Manche würden nicht einmal ein Küken oder einen Fisch töten. Andere glauben, daß es erlaubt ist zu kämpfen, um uns selbst und die Heiligen Dinge zu schützen.
Wenn wir diese Frage nur spirituell betrachten, könnten wir endlos debattieren und kämen nie zu einem Ende. Eine Einigung wäre schwierig, und vielleicht ist sie auch gar nicht nötig. Vielleicht
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