Das Fünfte Geheimnis
Management gesteuert.«
»Es gibt also keine richtigen Gewerkschaften? Sie können nicht streiken, für bessere Arbeitsbedingungen etwa?«
»Wir haben versucht, die Leute zusammenzubringen. Aber sie haben Angst. Ihre Entlohnung ist miserabel, aber es ist immer noch besser als auf der Straße zu verhungern und ohne Wasser zu verdursten. Nein, wir konnten nur einige Leute für uns gewinnen und in die Berge schicken. Das war alles. Dieses System kann man nur zertrümmern, mit den Wurzeln ausreißen und ganz neu beginnen... Hier ist es, hier müssen wir abbiegen. Wir dürfen nicht zu tief ins Industriegebiet, da laufen Wachen herum und fragen nach Pässen.«
Sie gingen eine Straße hinunter und fanden sich bald in einem Gewirr von kleinen Gassen wieder, von unzähligen kleinen Häusern, eher sogar Hütten, gesäumt. Die Gesichter der Menschen hier waren ebenso von der Sonne ausgedörrt und ledern wie ihr eigenes es inzwischen war. Die meisten hatten einen verhärmten Ausdruck, und auch darin fühlte sich Madrone diesen Menschen hier nahe. Ich fühle mich schon fast wie zu Hause, dachte sie.
Nach einer Weile nahm das Gewimmel ab. Hinter breiten Straßen lagen große Grundstücke, ein leichter Staubschleier bedeckte das magere Grün. Hijohn ließ seine Augen wachsam umherschweifen. Madrone fühlte die Anstrengungen des hinter ihr liegenden Marsches, aber sie riß sich zusammen. Nicht sehr weit von ihnen entfernt wurde Geschrei laut, Schüsse fielen. Hijohn ging schneller, schließlich rannten sie beide.
»Krieg zwischen zwei Gangs?« mutmaßte Hijohn, »zwar werden die Leute vom Web meist in Ruhe gelassen. Aber wie leicht werden wir beide aus Versehen erschossen.«
Madrone bemühte sich, ein Energiefeld um sich herum aufzubauen, halb und halb sichtbar als farbiges Licht. Aber auch das trug nicht dazu bei, ihre Nervosität zu beruhigen. Schließlich duckten sie sich zwischen zwei Gebäuden.
»Wir sind jetzt in dem Gebiet, das vom Web kontrollt wird«, sagte Hijohn leise, »die befreite Zone.« Madrone dachte insgeheim, daß eigentlich niemand hier wirklich frei sei. Sie konnte sich nicht vorstellen, warum in aller Welt die Stewards diese Gegend zu erobern wünschen sollten. Die Menschen und die Gegend hier sahen noch schäbiger, noch ärmlicher und verzweifelter aus als anderswo.
Die trümmerübersäten Straßen waren eigentlich nur noch gewundene Pfade zwischen Gebäuden, von denen man nicht wußte, ob sie nicht nur noch rein zufällig standen. Vermutlich waren die Stewards durchaus einverstanden, daß sich das Netzwerk, das Web, in diese kärgliche Gegend zurückgezogen hatte.
Weiter und weiter ging es, Madrones Füße schmerzten nicht nur von dem stundenlangen Marsch, sondern auch von der glühenden Hitze des Pflasters. Sie war so ermattet, daß sie nicht einmal mehr richtig schwitzen konnte.
Sie drangen immer tiefer in das Gebiet des Web ein. Erst schwach, dann immer näher hörten sie ein rhythmisches Trommeln. Schließlich schlüpften sie zwischen zwei eng zusammenstehenden, stuckverzierten Gebäuden hindurch.
Madrone blieb amüsiert stehen. Sie standen auf einer größeren Plaza. Sonnensegel schützten vor der glühenden Sonne. Die Gebäude rundherum machten einen soliden und gepflegten Eindruck. Sie schimmerten frisch geweißt. In großen Plastikkübeln und von kleinen Zäunen umgeben grünten verschiedene Gewächse. Madrone fing den Duft von Salbei, von Erde und Feuchtigkeit ein. Alles was sie sah, atmete Sorgfalt und Pflege. Hübsche bunte Gemälde schmückten die Mauern, und die Holzbalken der Vordächer waren mit Schnitzereien verziert.
Im diffusen Licht unter Sonnensegeln und Vordächern drängte sich eine kleine Ansammlung von Menschen. In der Mitte trommelten drei Männer und drei Frauen. Die anderen in der Runde sangen zum Rhythmus. Eine Frauenstimme erhob sich hell und klar über die anderen:
Öffnet die Augen, ein neuer Tag dämmert,
Freiheit geht auf, wie die Morgensonne
Es war ein altes Lied, Madrone hatte es schon Johanna singen hören. Ein Energie-Schauer kribbelte ihr das Rückgrat herauf und stellte die Haarwurzeln auf. Von hier kam also Johanna? War sie vielleicht durch diese Straßen hier gelaufen, war sie in einem der Häuser im Ghetto aufgewachsen, obwohl Madrone eher glaubte, daß das Ghetto gar nicht existierte. Aber wenn nicht, dann war dies eine hübsche Mittel-Klasse-Gegend, wo Maya und Johanna Tür an Tür gelebt hatten. Gleichviel. Ein ganz anderes Gefühl ergriff jetzt
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